Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
von blühendem, flutendem Leben zurück.
Wenn aber die Schauspieler derartig meine Phantasie beschäftigten und der Anblick Maubants, wie er einesNachmittags das Théâtre-Français verließ, mich den freudigen Schrecken und die Leiden der Liebe hatte erleben lassen, wie mußte dann erst der am Eingang eines Theaters erstrahlende Name einer Diva oder – im Fenster einer vorüberrollenden Equipage, mit Pferden bespannt, die Rosen an den Stirnriemen trugen – das Antlitz einer Frau, von der ich annahm, daß sie vielleicht eine Schauspielerin sei, in mir eine lang andauernde Verwirrung, ein ohnmächtiges, schmerzliches Bemühen zur Folge haben, mir ihr Leben vorzustellen. Die berühmtesten ordnete ich nach ihrem Talent: Sarah Bernhardt, die Berma 1 , die Bartet, Madeleine Brohan, Jeanne Samary, aber alle interessierten mich. Mein Onkel kannte viele von ihnen, wie auch Kokotten, die ich von den Schauspielerinnen nicht ganz klar zu unterscheiden verstand. Er sah sie bei sich zu Hause, und wenn wir ihn nur an gewissen Tagen besuchen gingen, so deshalb, weil an anderen Frauen zu ihm kamen, die seine Familie – wenigstens von ihrem Standpunkt aus – nicht hätte treffen können; denn was meinen Onkel anbelangte, so hatte ihn seine allzu eilfertige Bereitschaft, hübschen Witwen, die vielleicht nie verheiratet waren, und Gräf innen mit hochtönendem Namen, der zweifellos nur als »nom de guerre« zu werten war, die Freundlichkeit zu erweisen, sie mit meiner Großmutter bekannt zu machen oder ihnen Stücke aus dem Familienschmuck zu schenken, schon mehr als einmal mit meinem Großvater aneinandergeraten lassen. Oft hörte ich meinen Vater bei der Erwähnung eines Schauspielerinnennamens in der Unterhaltung lächelnd zu meiner Mutter sagen: »Eine Freundin deines Onkels«; und dann dachte ich, wie gut doch mein Onkel einem jungen Menschen wie mir das vergebliche Warten vor der Tür einer Frau, die ihm auf seine Briefe nicht anwortete und ihn durch ihren Portier wegschicken ließ – Dinge, die gewichtigeMänner oft jahrelang über sich ergehen lassen müssen – ersparen könnte, indem er mich in seinem Hause einer Schauspielerin vorstellte, die, für viele andere unerreichbar, eine gute Freundin von ihm war.
Unter dem Vorwand, eine neu angesetzte Unterrichtsstunde liege jetzt so unglücklich, daß sie mich mehrmals daran gehindert habe, meinen Onkel zu besuchen, und es auch weiter tun werde, verließ ich deshalb an einem Tage, der nicht für einen unserer Besuche vorgesehen war, an dem aber meine Eltern gerade früh zu Mittag gegessen hatten, das Haus, und anstatt die Anschlagsäule zu studieren, wozu man mich ohne Begleitung ausgehen ließ, lief ich zu ihm. Vor seiner Tür sah ich einen Zweispänner stehen; die Stirnriemen der Pferde waren ebenso wie das Knopfloch des Kutschers mit einer roten Nelke geschmückt. Auf der Treppe schon hörte ich Lachen und eine Frauenstimme und, als ich geläutet hatte, nach einem kurzen Schweigen das Geräusch von Türen, die geschlossen wurden. Der öffnende Kammerdiener schien bei meinem Anblick verlegen; er sagte, mein Onkel habe sehr viel zu tun und könne mich sicher nicht empfangen, doch während er ihn trotzdem fragen ging, hörte ich die Frauenstimme von vorhin: »Ach doch! Laß ihn doch kommen! Nur einen Augenblick, es würde mir solchen Spaß machen. Auf der Photographie, die du auf deinem Schreibtisch hast, sieht er genau aus wie seine Mama, deine Nichte; ihr Bild ist doch das gleich daneben, nicht wahr? Ich möchte den Jungen so gern einen Augenblick sehen.«
Ich hörte meinen Onkel etwas brummen, es klang, als sei er ärgerlich; dann kam der Diener und ließ mich ein.
Auf dem Tisch stand der gleiche Teller mit Marzipan wie gewöhnlich; mein Onkel hatte die übliche Hausjoppe an, aber ihm gegenüber saß im rosa Seidenkleidmit einem großen Perlenkollier um den Hals eine junge Frau, die gerade eine Mandarine aß. Die Ungewißheit darüber, ob ich sie mit Madame oder Mademoiselle anreden solle, trieb mir das Blut in die Wangen, und da ich nicht nach ihrer Seite hinzublicken wagte aus Angst, ich müsse mit ihr sprechen, ging ich auf meinen Onkel zu und gab ihm einen Kuß. Sie schaute mich lächelnd an, mein Onkel sagte zu ihr: »Mein Neffe«, ohne meinen Namen zu nennen noch mir den ihrigen zu verraten, sicherlich weil er wegen der Schwierigkeiten, die er mit meinem Großvater gehabt hatte, tunlichst jede Verbindung zwischen seiner Familie und dieser Art von Beziehungen zu
Weitere Kostenlose Bücher