Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
oder einen Stern an der Stirn trug, wie man sie im Zweiten Kaiserreich geliebt hatte, weil man sie »pompejanisch« fand; dann fand man sie eine Zeitlang scheußlich, und jetzt fangen sie wieder an, in Mode zu kommen, alles aus dem gleichen Grund, welche anderen man auch anführen mag: eben weil sie nach Second Empire aussehen. Ich blieb dann bei meinem Onkel, bis sein Kammerdiener ihn im Auftrag des Kutschers fragen kam, zu welcher Stunde angespannt werden solle. Mein Onkel versank jedesmal in tiefes Nachdenken, das der staunend dastehende Kammerdiener nicht durch die geringste Bewegung zu stören gewagt hätte, während er gespannt auf das Ergebnis wartete, das immer genau das gleiche war. Endlich, nach einem letzten Zögern, sprach mein Onkel unfehlbar die Worte aus: »Viertel nach zwei«, die der Kammerdiener verwundert und widerspruchslos wiederholte: »Viertel nach zwei? Gut … ich werde es sagen …«
Zu jener Zeit hatte mich die Liebe zum Theater erfaßt,eine platonische Liebe, denn meine Eltern hatten mir noch niemals erlaubt, es zu besuchen, und ich stellte mir die Freuden, die man dort genießt, so wenig der Wirklichkeit entsprechend vor, daß ich nicht weit davon entfernt war zu glauben, daß jeder Zuschauer wie durch ein Stereoskop eine Dekoration betrachte, die nur für ihn da sei, obwohl ebenso beschaffen wie die tausend anderen, die die übrigen Zuschauer, jeder für sich, betrachteten.
Jeden Morgen lief ich bis zur Anschlagsäule 1 , um nachzusehen, welche Stücke angezeigt waren. Nichts hätte selbstloser und beseligender sein können als die Träume, die jedes angekündigte Stück meiner Einbildungskraft schenkte und die für mich ihre Würze durch die Bilder erhielten, die sich unweigerlich gleichzeitig mit den Worten einstellten, aus denen der jeweilige Titel bestand, sowie auch durch die Farbe der noch feuchten und von Leim geschwellten Plakatzettel, auf denen sie erschienen. Wenn es sich nicht um so seltsame Werke 2 wie Le testament de César Girodet oder Œdipe-Roi handelte, die nicht auf dem grünen Plakat der Opéra-Comique, sondern auf dem graurosa gefärbten der Comédie-Française standen, schien mir nichts entlegener von dem blitzend weißen Reiherbüschel, das ich mir bei Les diamants de la couronne vorstellte, als die glatte, geheimnisvolle Seide des Domino noir , und da meine Eltern mir gesagt hatten, daß ich, wenn ich zum ersten Mal ins Theater ginge, zwischen diesen beiden Stücken zu wählen hätte, so suchte ich, da das alles war, was ich von ihnen kannte, abwechselnd in den Titel des einen und des anderen einzudringen, als könne mir jeder das Vergnügen, das mich in dem betreffenden Stück erwartete, erschließen und dem vergleichbar machen, das das andere mir versprach; schließlich stellte ich mir so deutlich auf der einen Seite eine glänzende und stolzeBühnenschöpfung, auf der anderen eine weichsamtene Angelegenheit vor, daß ich mich ebensowenig entscheiden konnte, welchem ich nun eigentlich den Vorzug geben sollte, wie wenn man mir zum Nachtisch die Auswahl gelassen hätte zwischen Riz à l’Impératrice und Schokoladencreme.
Alle meine Unterhaltungen mit Kameraden bezogen sich auf die Schauspieler, deren Kunst, obwohl mir noch unbekannt, die erste Form darstellte, unter der ich die Kunst schlechthin ahnend vor Augen sah. Die Art des einen oder anderen, eine längere Rede zu beginnen und zu nuancieren, die geringsten Unterschiede darin, schienen mir von unermeßlicher Bedeutung. Und nach dem, was ich über sie gehört hatte, ordnete ich sie in eine Rangfolge gemäß ihrem Talent ein, die ich mir den ganzen Tag im stillen hersagte und die schließlich in meinem Hirn etwas Starres bekam und mir durch ihre Unbeweglichkeit lästig zu werden begann.
Wenn ich später, auf dem Gymnasium, sobald der Lehrer den Rücken gewendet hatte, mit einem neuen Freund zu korrespondieren begann, war immer meine erste Frage, ob er schon im Theater gewesen sei und ob er auch finde, daß Got der größte Schauspieler, der zweite Delaunay sei und so fort. Und wenn seiner Meinung nach Febvre erst nach Thiron kam, oder Delaunay nach Coquelin 1 , so gab die plötzliche Beweglichkeit Coquelins, der auf einmal seine steinerne Haltung verlor und in meinem Geiste auf den zweiten Platz hinüberwechselte, und die phantastische Lebendigkeit, die fruchtbare Wiederbelebung, die Delaunay erfuhr, wenn er auf den vierten zurücktrat, meinem wieder geschmeidig und fruchtbar gewordenen Hirn ein Gefühl
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