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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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Vortrefflichkeit als eine Tatsache a priori, ihre seraphische Engelhaftigkeit als ein Axiom, ihre Tugenden, die unbeweisbar und aus der Erfahrung nicht abzuleiten waren, als eine Offenbarungswahrheit hin. »Ich möchte mit Ihnen reden. Sie sind doch jemand, der weiß, wie turmhoch Odette über allen anderen Frauen steht, was für ein anbetungswürdiges Wesen, welch ein Engel sie ist. Aber Sie kennen auch das Pariser Leben. Nicht jeder sieht Odette in dem gleichen Licht wie Sie und ich. Da gibt es denn Leute, die finden, daß ich eigentlich eine etwas komische Rolle spiele; sie will mir nicht einmal gestatten, daß ich sie außerhalb, im Theater treffe. Sie könnten doch, wo sie zu Ihnen soviel Vertrauen hat, ihr ein Wort zu meinen Gunsten sagen und ihr die Gewißheit geben, daß sie sich eine übertriebene Vorstellung davon macht, wie sehr bereits ein Gruß von mir ihr bei anderen schaden könnte.«
    Mein Onkel gab Swann den Rat, sie für eine Weile nicht zu sehen, und meinte, er werde ihr daraufhin nur um so lieber sein; Odette aber redete er zu, sie solle ruhig Swann erlauben, daß er sie überall träfe, wo es ihm gefiele. Ein paar Tage später beklagte sich Odette bei Swann, sie habe eine Enttäuschung erlebt, denn meinOnkel sei doch wie alle übrigen Männer: er habe sie mit Gewalt zu nehmen versucht. Sie beruhigte zwar Swann soweit, der im ersten Augenblick meinen Onkel fordern wollte, doch lehnte er künftig ab, ihm die Hand zu geben, wenn er ihn irgendwo traf. Er bedauerte diesen Bruch um so mehr, als er gehofft hatte, durch meinen Onkel Adolphe, wenn er ihn wieder öfter gesehen hätte, gewissen Gerüchten, die über Odettes früheres Leben in Nizza umliefen, auf den Grund zu kommen. Mein Onkel Adolphe nämlich brachte immer den ganzen Winter dort zu. Swann meinte sogar, er habe vielleicht da unten Odettes Bekanntschaft gemacht. Eine belanglose Äußerung, die in seiner Gegenwart über einen Mann gefallen war, der dort Odettes Liebhaber gewesen sei, hatte ihn tief getroffen. Doch Dinge, die er, bevor er sie kannte, furchtbar zu erfahren und unmöglich zu glauben gefunden hätte, waren, sobald er sie einmal wußte, für alle Zeiten in seine Trauer mit einbezogen, er anerkannte sie als Tatsachen und hätte nicht mehr begreifen können, daß sie nicht existierten. Nur brachte jede dieser Einzelheiten an dem Bild, das er sich von seiner Geliebten machte, eine Retusche an. Er glaubte einmal sogar verstehen zu müssen, daß die leichten Sitten Odettes, die er nie vermutet hätte, ziemlich notorisch waren und daß sie in Baden-Baden und Nizza, wenn sie früher dort ein paar Monate zugebracht hatte, sogar eine gewisse Berühmtheit in den Sphären des galanten Lebens erlangt hatte. Um etwas darüber zu erfahren, versuchte er mit mehreren Angehörigen der Lebewelt in Kontakt zu kommen; diese aber wußten, daß er Odette gut kannte; außerdem befürchtete er, sie von neuem auf den Gedanken an sie zu bringen und damit gleichsam auf ihre Fährte zu setzen. Er, dem zuvor nichts so öde vorgekommen war wie alles, was mit dem kosmopolitischen Leben von Baden-Baden oder Nizza zusammenhing,beugte sich jetzt, seitdem er wußte, daß Odette vielleicht früher an diesen Vergnügungsplätzen ein bewegtes Leben geführt hatte, ohne daß er jemals genau erfahren würde, ob sie es nur getan habe, um ihren Bedarf an Geld zu decken, was sie dank seiner Hilfe nicht mehr nötig hatte, oder aufgrund von Launen, die wieder aufleben konnten, in ohnmächtiger Furcht, blind und von Schwindel gepackt über den bodenlosen Abgrund, in den jene Jahre aus der ersten Zeit des Septennats 1 versunken waren, in denen man den Winter auf der Promenade des Anglais und den Sommer unter den Linden von Baden-Baden verlebte, und fand in ihnen jenen schmerzlichen und grandiosen Reiz, den vielleicht ein Dichter ihnen beigelegt haben würde; und um die kleinen Ereignisse aus der Chronik der Côte d’Azur von damals zu rekonstruieren, wenn sie ihm dazu verholfen hätten, etwas Bestimmtes am Lächeln oder den Blikken – die dabei so ehrlich waren und so schlicht – von Odette zu verstehen, hätte er eine größere Leidenschaft aufgewendet als der Kunsthistoriker, der Quellendokumente über das Florenz des Quattrocento studiert, um tiefer in das Seelenleben der Primavera, der Bella Vanna oder der Venus von Botticelli einzudringen. 2 Oft schaute er sie schweigend und nachdenklich an; dann sagte sie zu ihm: »Wie traurig du aussiehst!« Es war noch nicht sehr

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