Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
ausgegangen war, und ihm diese oder jene Einzelheit schildern konnte. Während er dann an den einen oder anderen seiner Freunde um Aufklärung eines Punktes schrieb, erholte er sich bei dem Gedanken, daß er selbst sich nun keine Fragen mehr zu stellen brauchte, die keine Antwort fanden, daß er die Mühe der Erkundung an einen anderen abgegeben habe. Allerdings war Swann kaum besser daran, wenn er gewisse Auskünfte erhielt. Wissen ist nicht immer gleichbedeutend mit Verhindernkönnen, doch haben wir immerhin die Dinge, die wir wissen, wenn auch nicht in der Hand, so doch im Kopf, wo wir sie nach Belieben einordnen können, und das gibt uns dann die Illusion einer gewissen Macht über sie. Er war jedesmal glücklich, wenn Monsieur de Charlus bei Odette war. Swann wußte, daß zwischen Charlus und ihr nichts vorkommen konnte 1 , daß es, wenn Monsieur de Charlus mit ihr ausging, aus Freundschaft für ihn geschah und daß er ohne Schwierigkeiten ihm erzählen würde, was sie unternommen hatte. Manchmal hatte sie Swann so kategorisch erklärt, es sei ihr ganz unmöglich, ihn an einem bestimmten Abend noch zu sehen, sie schien so großen Wert darauf zu legen, gerade dann auszugehen, daß es für Swann höchst wichtig wurde, daß Charlus frei wäre und sie begleiten könnte. Am nächsten Tag zwang er ihn dann, da er ihm nicht viele Fragen zu stellen wagte, dadurch, daß er so tat, als habe er seine erste Antwort nicht verstanden, ihm weitere zu erteilen; nach jeder fühlte er sich leichter, denn er bekam sehr bald heraus, daß Odette den Abend mit den harmlosesten Dingen zugebracht hatte. »Aber wie denn, mein lieber Mémé, ich verstehe nicht recht … ihr seid doch nicht direkt von ihrem Hause aus ins Musée Grévin 2 gegangen? Ihr wart doch bestimmt erst nochanderswo. Nein? Ach! Das ist aber komisch! Sie ahnen nicht, mein lieber Mémé, wie mich das alles amüsiert. Das ist aber eine lustige Idee gewesen, hinterher noch ins ›Chat Noir‹ 1 zu gehen, das sieht ihr ähnlich … Nein? Der Gedanke stammte von Ihnen? Ach, das wundert mich. Wirklich, gar keine schlechte Idee. Sie hat da sicher auch viele Bekannte getroffen? Nein? Sie hat mit niemand gesprochen? Das ist aber sonderbar. Da sind Sie beide also ganz allein geblieben? Ich sehe die Szene vor mir. Sie sind wirklich sehr lieb, mein guter Mémé, ich habe Sie furchtbar gern.« Swann fühlte sich erleichtert. Für ihn, dem es schon mehrmals passiert war, daß er, wenn er mit gleichgültigen Leuten sprach, denen er kaum zuhörte, plötzlich gewisse Sätze vernahm (zum Beispiel: »Gestern habe ich Madame de Crécy gesehen, sie war mit einem Herrn, den ich nicht kenne«), die in seinem Innern sofort feste Gestalt annahmen, sich in ihm einkapselten, ihn quälten und nicht von der Stelle wichen, waren die Worte: »Sie kannte niemand, sie hat mit niemand gesprochen!« dagegen unbeschreiblich süß, sie gingen ihm glatt ein, sie waren so flüssig und flüchtig wie leichte Luft, in der man atmen kann! Doch gleich darauf mußte er sich eingestehen, daß Odette ihn schon recht langweilig finden mußte, um seiner Gesellschaft solche Vergnügungen vorzuziehen, deren Belanglosigkeit ihn zwar einerseits beruhigte, andererseits aber auch schmerzte wie ein Verrat.
Selbst wenn er nicht in Erfahrung bringen konnte, wohin sie gegangen war, hätte es ihm zur Überwindung seiner Angst – für die Odettes Gegenwart, das beglückte Gefühl, bei ihr zu sein, das einzige Spezifikum war (ein Spezifikum, das, wie viele Mittel, das Übel auf die Dauer zwar schlimmer machte, aber doch für den Augenblick anästhesierend wirkte) – schon genügt, sofern nur Odette es erlaubte, solange sie fort war, auf ihreRückkehr in ihrer Wohnung zu warten; in deren tiefem Frieden würden sich dann die Stunden verlieren, die ihm durch bösen Zauber anders erschienen als die übrigen. Doch sie wollte es nicht; er fuhr nach Hause zurück und zwang sich unterwegs, verschiedene Pläne zu machen, er dachte nicht mehr an Odette; es gelang ihm sogar, während er sich auskleidete, sich nahezu heiteren Vorstellungen zu überlassen; in der Hoffnung, am folgenden Tag irgendein Meisterwerk der Kunst zu betrachten, legte er sich zu Bett und löschte sein Licht; sobald er aber bei der Vorbereitung auf den Schlaf aufhörte, einen Zwang auf sich selbst auszuüben, dessen er sich schon nicht mehr bewußt war, so sehr war er daran gewöhnt, strömte ein eisiger Schauer in sein Herz und löste ein Schluchzen in seiner Kehle
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