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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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lange her, daß er von der Vorstellung, sie sei ein gutes Geschöpf, so vortrefflich wie die besten, die er je gekannt hatte, zu jener anderen übergegangen war, sie sei eine ausgehaltene Person; umgekehrt war es danach schon vorgekommen, daß er von jener Odette de Crécy, die in der Welt der Nachtschwärmer und Lebemänner vielleicht nur allzu bekannt war, wieder zu dem Antlitz mit der oft so überaus sanften Miene, der menschlich warmen Natur zurückgekehrt war. Was besagt es schon, pflegte er sich zu sagen, daß in Nizza jeder weiß, werOdette de Crécy ist? Renommees dieser Art werden, selbst wenn sie stimmen, in den Köpfen der anderen hergestellt; er dachte, daß diese Legende – selbst wenn sie authentisch wäre – ja dem Bild Odettes nur von außen hinzugefügt, nicht wie eine Persönlichkeit unverrückbar und immer weiter Übles wirkend sei; daß das Geschöpf, das vielleicht dazu verleitet worden war, etwas Unrechtes zu tun, eine Frau mit gütigen Augen, einem Herzen voll Mitleid für menschliches Leiden, einem schmiegsamen Körper sei, den er selbst in Armen gehalten und mit Händen berührt hatte, eine Frau, die er eines Tages vielleicht völlig für sich haben würde, wenn es ihm nur gelänge, ihr unentbehrlich zu werden. Da saß sie, oft müde, mit einem Gesicht, aus dem einen Augenblick lang das fieberhaft muntere Beschäftigtsein mit den unbekannten Dingen gewichen war, unter denen Swann so litt; sie schob ihr Haar mit den Händen zurück; ihre Stirn, ihr Gesicht trat um so breiter hervor; dann brach plötzlich irgendein schlicht menschlicher Gedanke, ein gutes Gefühl, wie jede Kreatur es hat, wenn sie in einem Augenblick der Ruhe und der Sammlung sich selbst überlassen ist, aus ihren Augen wie ein gelber Strahl hervor. Ihr ganzes Antlitz hellte sich auf wie eine graue Landschaft, über der die Wolken, von denen sie überlagert ist, im Augenblick des Sonnenuntergangs sich teilen, um das verklärende Licht über sie fluten zu lassen. Das Leben, das in solchen Augenblicken in Odette war, selbst die Zukunft, die sie träumend im Auge zu haben schien, hätte Swann mit ihr teilen mögen; keine schlechte Regung mehr schien darin als Rückstand geblieben zu sein. So selten diese Momente auch wurden, gingen sie doch nicht nutzlos vorbei. In der Erinnerung fügte Swann diese kleinen Bruchstücke zusammen, er ließ die Zwischenräume fort und formte sich dann daraus wie aus reinem Gold eine Odette, die ganzGüte und Gelöstheit war und der er später (wie man im zweiten Teil dieses Werks sehen wird) Opfer brachte, die die andere Odette niemals von ihm erlangt hätte. Doch wie selten waren diese Augenblicke, und wie wenig sah er sie jetzt! Selbst für ihre abendlichen Zusammenkünfte galt, daß sie ihm erst in letzter Minute sagte, ob sie sie ihm gewähren könne oder nicht, denn da sie damit rechnete, daß er immer frei sei, wollte sie erst ganz sicher gehen, daß niemand sonst sie zum Kommen aufforderte. Sie gab dann vor, sie müsse auf eine Antwort von höchster Wichtigkeit für sie warten, und selbst wenn, nachdem Swann schon gekommen war, irgendwelche Freunde im Verlauf eines bereits angebrochenen Abends sie noch aufforderten, sie im Theater oder hinterher zum Nachtessen zu treffen, machte sie einen Luftsprung vor Freude und kleidete sich in Eile um. Je weiter ihre Toilette fortschritt, mit jeder Bewegung, die sie vollzog, rückte für Swann der Augenblick näher, da er sie verlassen mußte, da sie in einem unwiderstehlichen Schwung von ihm fortschnellen würde; und wenn sie dann fertig war und ein letztes Mal ihre von Aufmerksamkeit gespannten und erhellten Blicke in den Spiegel versenkte, etwas Rouge auf die Lippen tat, eine Locke auf der Stirn ordnete und ihren himmelblauen Abendmantel mit den goldenen Quasten verlangte, sah Swann so traurig aus, daß sie eine Bewegung der Ungeduld nicht unterdrükken konnte und zu ihm sagte: »So also dankst du mir, daß ich dich bis zur letzten Minute dabehalten habe. Und ich meinte es besonders nett. Gut zu wissen; ich merke es mir für das nächste Mal!« Zuweilen nahm er sich auf die Gefahr, sie zu verstimmen, vor, ganz genau festzustellen, wohin sie gegangen war; er träumte von einem Abkommen mit Forcheville, der ihm vielleicht Auskunft geben könnte. Wenn er im übrigen wußte, mit wem sie den Abend verbrachte, kam es nur sehr seltenvor, daß er nicht bei seinen vielen Beziehungen jemand fand, der, wenn auch nur indirekt, den Mann kannte, mit dem sie

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