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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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aus. Er wollte nicht einmal wissen, weshalb, er trocknete sich die Augen und sagte sich lachend dabei: So ist es recht, jetzt werde ich vollends neuropathisch. Danach konnte er nicht mehr ohne ein Gefühl großer Müdigkeit daran denken, daß er am nächsten Tag wiederum anfangen müsse zu ermitteln, was Odette getan hatte, und Beziehungen spielen zu lassen, um zu versuchen, sie zu sehen. Diese Notwendigkeit unablässigen Handelns, bei dem kein Wechsel und eigentlich kein Erfolg zu erwarten waren, wurde so grausam für ihn, daß er, als er eines Tages bei sich eine Schwellung am Leib bemerkte, freudig mit dem Gedanken spielte, es könne ein bösartiger Tumor sein, er habe vielleicht gar nicht nötig, sich noch um irgend etwas zu bekümmern, die Krankheit werde ihn ganz beherrschen, er werde bis zum nahen Ende nur noch ihr Spielball sein. Wenn er in jener Zeit häufig, ohne es sich einzugestehen, den Tod herbeiwünschte, so tatsächlich weniger, um der Heftigkeit seiner Leiden als vielmehr der Monotonie seiner Bemühungen zu entrinnen.
    Und doch hätte er gern noch die Zeit erlebt, wo er sienicht mehr lieben, wo sie keinen Grund mehr haben würde, ihm Lügen aufzutischen, und wo er endlich einmal würde erfahren können, ob sie an dem Tag, als er sie am Nachmittag besuchen wollte, gerade mit Forcheville im Bett war oder nicht. Manchmal lenkte ihn der Verdacht, sie könne einen anderen lieben, während einiger Tage davon ab, sich diese Frage speziell mit Bezug auf Forcheville zu stellen, ja er machte ihn sogar beinahe gleichgültig dagegen, so wie die neuen Formen, in denen ein immer gleicher krankhafter Zustand auftritt, uns einen Augenblick lang von den früheren befreit zu haben scheinen. Es gab sogar Tage, an denen er von keinem Argwohn heimgesucht war. Er glaubte sich geheilt. Am folgenden Morgen aber fühlte er beim Erwachen an der gleichen Stelle ganz den gleichen Schmerz, dessen Empfindung sich den ganzen Vortag über im Strom der verschiedenen Eindrücke aufgelöst hatte. Er hatte sich jedoch nicht von der Stelle gerührt. Es war vielmehr die Heftigkeit des Schmerzes, die Swann aufgeweckt hatte.
    Da Odette ihm keine Auskunft über die so wichtigen Dinge gab, von denen sie den ganzen Tag in Anspruch genommen war (seiner Erfahrung nach konnte es sich dabei freilich nur um Vergnügungen handeln), vermochte er sie sich nicht lange vorzustellen, sein Hirn funktionierte eine Weile noch im Leerlauf, dann strich er sich mit den Fingern über die müden Lider, als wolle er das Glas seines Kneifers putzen, er dachte überhaupt nicht mehr. Freilich schwebten über diesem Unbekannten gewisse Beschäftigungen umher, die von Zeit zu Zeit wiederkehrten und auf unbestimmte Art mit Verpflichtungen gegenüber entfernten Verwandten oder Freunden von früher in Beziehung standen; da sie die einzigen waren, die Odette oft als Grund dafür anführte, daß er sie nicht sehen könne, schienen sie Swanneine Art von festem, unverrückbarem Rahmen für Odettes Dasein abzugeben. Wenn er sich des Tons erinnerte, in dem sie von Zeit zu Zeit sagte, es sei der Tag, an dem sie mit ihrer Freundin ins Hippodrom gehe, und sich klarmachte, sobald er sich einmal gerade elend fühlte und gedacht hatte: Vielleicht würde Odette ein Weilchen zu mir kommen, daß es ja gerade dieser Tag sei, sagte er sich: Ach nein, da hat es keinen Zweck, sie zu mir zu bitten, ich hätte eher daran denken sollen, es ist ja der Tag, an dem sie mit ihrer Freundin ins Hippodrom geht. Ich spare es mir besser für ein andermal auf, wo es möglich ist; es ist sinnlos, etwas vorzuschlagen, was sich doch nicht einrichten läßt und wovon man von vornherein weiß, daß sie es nicht tut. Diese Verpflichtung, ins Hippodrom zu gehen, die Odette auferlegt war und vor der Swann sich beugte, war nicht nur in sich selbst sakrosankt, sondern ihr Unausweichlichkeitscharakter schien auch alles plausibel und legitim zu machen, was in irgendeinem engen oder losen Zusammenhang damit stand. Wenn Odette auf der Straße von einem Vorübergehenden gegrüßt und Swanns Eifersucht dadurch geweckt worden war und sie auf seine Fragen in der Weise antwortete, daß sie die Existenz dieses Unbekannten mit den zwei oder drei festen Verpflichtungen, die sie zu erwähnen pflegte, in Verbindung brachte, und etwa sagte: »Das ist ein Herr, der in der Loge meiner Freundin war, mit der ich ins Hippodrom gehe«, so brachte diese Erklärung sofort Swanns Argwohn zur Ruhe, denn er fand es in der Tat

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