Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
gewisser Weise zu seinem Haus,seinem Lebenszuschnitt und zu seiner Familie. Er wußte, daß er an seinen glänzenden freundschaftlichen Verbindungen die gleiche Stütze außerhalb seiner selbst, die gleiche Stärkung besaß wie an seinem schönen Landbesitz, dem schönen Silber, den schönen Tafeltüchern, die ihm von den Seinen her überkommen waren. Und der Gedanke, daß, wenn ein Schlag ihn träfe, der Herzog von Chartres, Prinz Reuß, der Herzog von Luxemburg und Baron Charlus die Personen wären, die sein Kammerdiener schnellstens herbeiholen würde, spendete ihm ebensoviel Trost wie unserer alten Françoise das Bewußtsein, daß sie in einem der ihr gehörigen feinen Leintücher beerdigt werden würde, die mit ihrem Namen gezeichnet und noch nicht ausgebessert waren (oder aber so unsichtbar, daß man dadurch nur eine um so höhere Meinung von der Sorgfalt der Handarbeit bekommen würde), eine Vorstellung, aus der sie, so oft sie sie sich vor Augen führte, eine gewisse Befriedigung ihrer Eigenliebe, ja sogar eine Art von Behagen zog. Da nun Swann bei allen Gedanken und Handlungen, die sich auf Odette bezogen, unaufhörlich von dem uneingestandenen Gefühl beherrscht und geleitet wurde, daß er ihr vielleicht nicht weniger lieb, sein Anblick ihr aber doch weniger angenehm war als der eines beliebigen anderen, der des langweiligsten Getreuen der Verdurins, begann er, wenn er sich jetzt wieder auf eine Gesellschaft stützte, in der er als Gentleman par excellence galt, in der man alles tat, um ihn ins Haus zu locken, wo man unglücklich war, wenn man ihn nicht zu sehen bekam, wieder an das Vorhandensein eines glücklicheren Lebens zu glauben, fast Lust darauf zu bekommen wie ein Kranker, der seit Monaten bei strikter Diät Bettruhe halten muß, wenn er in der Zeitung auf die Speisenfolge eines offiziellen Diners oder die Ankündigung einer Vergnügungsfahrt nach Sizilien stößt.
Während er genötigt war, sich bei den Angehörigen der ersten Gesellschaftskreise zu entschuldigen, wenn er ihnen keine Besuche machte, mußte er Odette im Gegenteil um Verzeihung bitten, wenn er es tat. Dabei bezahlte er sie noch dazu (denn am Ende des Monats fragte er sich, sofern er ihre Geduld allzu stark strapaziert und ihr häufig Besuche gemacht hatte, ob es genug sein würde, wenn er ihr viertausend Francs 1 schickte) und hatte für jeden einen Vorwand, ein Geschenk, das er ihr überbringen wollte, eine Auskunft, die sie brauchte, oder die Behauptung, Monsieur de Charlus, den er gerade auf dem Weg zu ihr getroffen hatte, hätte nachdrücklich um seine Begleitung gebeten. Wenn er absolut keinen fand, so bat er Charlus zu ihr zu gehen und wie ganz von sich aus im Laufe des Gesprächs darauf zu kommen, er müsse Swann dringend sprechen, und zu fragen, ob sie ihn nicht auffordern könne, gleich zu ihr zu kommen; meist aber wartete Swann umsonst, und Monsieur de Charlus teilte ihm am Abend mit, das Mittel habe versagt. So kam es, daß sie, ganz abgesehen von ihren jetzt so häufigen Abwesenheiten von Paris, auch wenn sie dort war und blieb, ihn nur wenig sah; sie, die, als sie ihn liebte, zu ihm gesagt hatte: »Ich bin immer frei« und »Was mache ich mir schon aus der Meinung der anderen?«, führte jetzt unaufhörlich, wenn er sie sehen wollte, konventionelle Bedenken oder andere Verpflichtungen an. Wenn er davon sprach, zu einem Wohltätigkeitsfest, einer Ausstellungseröffnung, einer Premiere gehen zu wollen, bei der auch sie anwesend war, sagte sie ihm, er wolle sich überall mit ihr zeigen, er behandle sie wie eine Prostituierte. Das ging schließlich so weit, daß Swann, um nicht überhaupt darauf verzichten zu müssen, irgendwo mit ihr zusammenzutreffen, eines Tages in seinem kleinen Appartement in der Rue Bellechasse meinen Großonkel Adolphe aufsuchte, vondem er wußte, daß sie ihn kannte und schätzte, und dessen Freund er auch selbst gewesen war, um ihn zu bitten, er möge doch seinen Einfluß auf Odette geltend machen. 1 Da sie immer, wenn sie zu Swann von meinem Onkel sprach, einen schwärmerischen Ton anschlug und Dinge sagte wie: »Ach, er! Er ist nicht wie du, seine Freundschaft für mich ist etwas so Schönes, so Großes, so Besonderes! Er würde niemals so wenig zartfühlend sein, daß er sich mit mir bei öffentlichen Veranstaltungen zeigen wollte«, daß Swann ganz in Verlegenheit war, zu welchem gewählten Ton er sich aufschwingen müsse, um von ihr zu meinem Onkel zu reden. Er stellte zunächst Odettes
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