Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
Saint-Euverte zu sehen erwartet hatte, soeben eingetroffen. Um zu zeigen, daß sie in einem Salon, den sie nur aus gnädiger Herablassung besuchte, ihren überlegenen Rang nicht fühlen lassen wollte, war sie mit diskret gesenkten Schultern eingetreten und schob sich selbst da nur ganz unauffällig hindurch, wo es gar keine Massen zu durchteilen oder niemanden vorbeizulassen galt; sie blieb mit Absicht im Hintergrund, als sei dort ihr Platz, wie ein König, der sich in die Schlange am Theatereingang einreiht, solange die leitenden Herren nicht wissen, daß er anwesend ist; und indem sie ihren Blick ganz schlicht – damit es nicht aussähe, als mache sie auf ihre Anwesenheit aufmerksam und wolle mit besonderer Rücksicht behandelt sein – auf die Betrachtung eines Musters im Teppichoder auf ihrem eigenen Rock beschränkte, stand sie in dem Winkel, der ihr als der bescheidenste erschien (und aus dem, wie sie recht gut wußte, mit einem entzückten Ausruf Madame de Saint-Euverte sie sofort herausholen würde, sobald sie sie bemerkte), neben Madame de Cambremer, die ihr nicht bekannt war. Sie beobachtete die Mimik ihrer musikbegeisterten Nachbarin, ahmte sie aber nicht nach. Nicht etwa, daß die Fürstin des Laumes, wenn sie schon einmal auf fünf Minuten bei Madame de Saint-Euverte erschien, nicht gewünscht hätte, damit ihr die erwiesene Höflichkeit doppelt angerechnet würde, so liebenswürdig wie möglich zu sein. Doch sie hatte von Natur ein Grauen vor allem, was sie »Übertreibungen« nannte, und legte Wert darauf zu zeigen, daß sie es »nicht nötig habe«, nach außen hin ihre Gefühle in einer Weise zu bekunden, die nicht das »Genre« der Coterie war, zu der sie gehörte, die ihr aber andererseits doch Eindruck machte aufgrund jenes gewissen Nachahmungstriebes, der der Schüchternheit nahe benachbart ist und sogar bei von Natur aus selbstsicheren Menschen durch die Atmosphäre eines ihnen neuen Milieus geweckt wird, auch wenn es sich um ein sozial tieferstehendes handelt. Sie begann sich zu fragen, ob diese Gestikulation nicht etwa durch das gespielte Stück bedingt sei, das vielleicht einer ganz anderen Gattung angehörte als alles, was sie bislang gehört hatte, ob ein Verzichten darauf nicht ein Zeichen von Verständnislosigkeit gegenüber dem Werk oder eine Unfreundlichkeit gegenüber der Gastgeberin sei, so daß sie, um ihre widersprechenden Gefühle durch einen »Kompromiß« auszudrücken, bald sich damit begnügte, ihre Achselbänder zurechtzurücken oder in ihrem blonden Haar die kleinen diamantenüberstreuten Beeren aus Korallen oder rosa Email, die ihr eine reizende schlichte Haartracht schufen, zu befestigen, bald, während sie mitkalter Neugier ihre stürmische Nachbarin musterte, mit ihrem Fächer einen Augenblick lang den Rhythmus der Musik begleitete, allerdings, um ihrer Unabhängigkeit nicht zu entsagen, gegen den Takt. Als der Pianist das Stück von Liszt beendet hatte und ein Prélude von Chopin intonierte, warf Madame de Cambremer Madame de Franquetot einen gerührten Blick zu, der neben der Befriedigung eingeweihten Könnertums eine Anspielung auf vergangene Zeiten enthielt. Sie hatte in ihrer Jugend gelernt, den langen, sich unendlich emporwindenden Hals Chopinscher Themen zu streicheln, die sich so frei, so biegsam, so fühlbar erheben, um zuerst ihren Platz außerhalb und weit entfernt von ihrer anfänglichen Richtung zu suchen und zu erproben, weit entfernt von dem Punkt, an den man gehofft hatte von ihrer Liebkosung geführt zu werden, und die nur deshalb in dieser verspielten Abweichung verweilen, um desto entschiedener zurückzukehren und uns – durch eine kalkulierte Umkehr und mit größerer Präzision, als glitten sie über ein Kristallglas, dessen Schwingung sich ins Unerträgliche steigert – mitten ins Herz zu treffen. 1
Da Madame de Cambremer in der Provinz in einer Familie lebte, die wenig Beziehungen zur Gesellschaft unterhielt und kaum jemals Bälle besuchte, hatte sie sich in der Einsamkeit ihres Landsitzes daran berauscht, den Tanzschritt all dieser imaginären Paare bald zu verlangsamen, bald zu beschleunigen, sie wie Blüten umherzustreuen, den Ball für einen Augenblick zu verlassen, um draußen den Wind unter den Tannen am Seeufer wehen zu hören und dann auf einmal, mehr noch von allen Träumen verschieden, als ein irdischer Liebhaber es jemals sein könnte, einen zartgegliederten jungen Mann, mit etwas singender, fremder und falscher Stimme, in weißen
Weitere Kostenlose Bücher