Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
Handschuhen auf sich zukommen zu sehen. Doch heute schien die verjährte Schönheit dieser Musikohne Frische und beinahe verwelkt. 1 Seit einigen Jahren von den Kennern nicht mehr bewundert, hatte sie Ehre und Zauber eingebüßt, und selbst Leute mit schlechtem Geschmack fanden nur noch ein uneingestandenes, mäßiges Vergnügen daran. Madame de Cambremer blickte verstohlen hinter sich. Sie wußte, daß ihre junge Schwiegertochter (voller Respekt vor ihrer neuen Familie, soweit es sich nicht um geistige Dinge handelte, in denen sie, die Harmonielehre getrieben und Griechisch gelernt hatte, ein Übergewicht besaß) Chopin verachtete und darunter litt, wenn sie ihn spielen hörte. Da sie sich aber der Aufsicht dieser Wagnerianerin, die in einiger Entfernung bei einer Gruppe von Personen ihres Alters stand, entronnen fühlte, gab sie sich entzückt ihren Eindrücken hin. Die Fürstin des Laumes empfand in ganz der gleichen Weise. Ohne von Natur musikalisch zu sein, hatte sie doch vor fünfzehn Jahren im Faubourg Saint-Germain den Klavierunterricht einer genialen Frau genossen, die am Ende ihres Lebens in Not geraten war und im Alter von siebzig Jahren wieder angefangen hatte, den Töchtern und Enkelinnen ihrer einstigen Schülerinnen Musikstunden zu erteilen. Sie war nicht mehr am Leben. Ihre Methode aber, ihr schöner Anschlag lebten manchmal noch unter den Händen ihrer Schülerinnen wieder auf, selbst bei denjenigen, die sich ansonsten zu Durchschnittsgeschöpfen entwickelt und die Musik aufgegeben hatten und fast nie mehr eine Taste anrührten. Daher konnte auch Madame des Laumes in voller Sachkenntnis den Kopf wiegen, mit genauer Beurteilung der Art, in der der Pianist das Prélude vortrug, das sie auswendig kannte. Das Ende des begonnenen Themas sang wie von selbst auf ihren Lippen mit. Sie murmelte »ch-charmant wie immer« mit einem doppelten »Ch« im Anlaut, das eine verfeinerte Wertschätzung ausdrückte und bei dem ihre Lippen sichverheißungsvoll kräuselten wie schöne Blütenblätter; unwillkürlich stellte sie ihren Blick durch etwas gefühlvoll Schweifendes darin auf die gleiche Nuance ab. Indessen kam in der Marquise von Gallardon der Gedanke auf, daß es doch ärgerlich sei, wie selten sie Gelegenheit habe, der Fürstin des Laumes zu begegnen; sie wollte ihr so gern einmal eine Lektion erteilen, indem sie ihren Gruß nicht erwiderte. Sie wußte nicht, daß ihre Kusine da war. Als Madame de Franquetot den Kopf etwas zur Seite neigte, entdeckte sie die Fürstin. Sofort stürzte sie sich auf sie, ohne darauf zu achten, daß sie die anderen störte; in dem Wunsch aber, eine hochmütige und eisige Miene zu bewahren, die allgemein daran erinnern sollte, daß sie eigentlich keine Beziehungen zu einer Person zu unterhalten wünschte, bei der man sich plötzlich der Prinzessin Mathilde gegenüber sehen konnte und der sie auch nicht einen Schritt entgegenzukommen nötig hatte, da jene ja nicht »von ihrer Generation« sei, wollte sie doch andererseits diese hochmütige und reservierte Haltung durch eine Bemerkung ausgleichen, die ihren Schritt rechtfertigte und die Fürstin zwang, das Gespräch aufzugreifen; als sie schließlich ihrer Kusine gegenüberstand, fragte sie also mit verschlossener Miene und indem sie ihr die Hand hinhielt wie eine Karte, mit der man notgedrungen »bedient«: »Wie geht es deinem Mann?« in so besorgtem Ton, als sei der Fürst schwer erkrankt. Die Fürstin brach in ein Lachen aus, das ihr eigentümlich war und das gleichzeitig den Zweck erfüllte, den anderen zu bedeuten, daß sie sich über jemand lustig mache, sie aber auch um so hübscher erscheinen ließ, weil sich der ganze Ausdruck ihres Gesichts in dem lebendigen Mund und dem leuchtenden Blick konzentrierte, und antwortete:
»Aber ganz ausgezeichnet!«
Sie lachte immer noch. Doch die Taille straffend undmit kühlerer Miene, immer noch um den Zustand des Fürsten des Laumes besorgt, fuhr Madame de Gallardon zu ihrer Kusine gewendet fort:
»Oriane (hier warf Madame des Laumes einem unsichtbaren Dritten einen erstaunten und lächelnden Blick zu, mit dem sie offenbar nachdrücklich zu verstehen geben wollte, daß sie niemals die Marquise von Gallardon autorisiert habe, sie beim Vornamen zu nennen), ich würde großen Wert darauf legen, daß du morgen abend einen Augenblick zu mir kommst und dir ein Quintett mit Klarinette von Mozart 1 anhörst. Ich möchte deine Meinung darüber hören.«
Sie schien nicht eine Einladung
Weitere Kostenlose Bücher