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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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beherrschen sucht, ein Blick, der zu sagen scheint: »Ich kann nicht anders!« –, daß sie dauernd mit ihren Diamantgehängen an den Schulterpatten ihrer Bluse hängenblieb und die schwarzen Trauben, die sie im Haar trug, zurechtrücken mußte, ohne einen Augenblick mit der Beschleunigung der Bewegung innezuhalten. Auf der anderen Seite von Madame de Franquetot, etwas weiter vorn, saß die Marquise von Gallardon, mit ihren Lieblingsgedanken beschäftigt, nämlich der Tatsache ihrer Verschwägerung mit den Guermantes, deren sie sich vor der Gesellschaft und vor sich selbst groß rühmte, allerdings nicht ohne eine Spur von Beschämung, da die illustersten Repräsentanten des Hauses sich von ihr etwas zurückhielten, vielleicht weil sie langweilig oder weil sie boshaft war oder weil sie einer bescheideneren Nebenlinie angehörte, möglicherweise auch aus gar keinem Grund. Wenn sie neben jemand saß, den sie nicht kannte, wie im Augenblick neben Madame de Franquetot, litt sie darunter, daß ihre Verwandtschaft mit den Guermantes sich nicht in äußerlich sichtbaren Schriftzeichen bekunden konnte, gleich jenen, die in den Mosaiken byzantinischer Kirchen eines unter dem anderen in einer senkrechten Kolonne neben einer Heiligenfigur die Worte verzeichnen, die sie sprechen soll. Sie dachte gerade daran, daß ihre junge Kusine, die Fürstin des Laumes, ihr in den sechs Jahren, die sie verheiratet war, weder einen Besuch gemacht noch eine Einladung geschickthatte. Der Gedanke daran erfüllte sie mit Empörung, doch auch mit Stolz, denn sie hatte so oft zu anderen Leuten, die sich wunderten, sie bei Madame des Laumes nicht zu sehen, gesagt, sie wolle eben nicht Gefahr laufen, dort der Prinzessin Mathilde 1 zu begegnen – was ihre ultralegitimistische Familie ihr nie verziehen hätte –, daß sie schließlich glaubte, dies sei wirklich der Grund, weshalb sie ihre junge Kusine nicht besuche. Dennoch erinnerte sie sich, wenn auch nur dunkel, daß sie Madame des Laumes mehrmals gefragt hatte, wie es sich einrichten ließe, sie zu treffen, doch schob sie diese etwas demütigende Erinnerung dadurch auf ein ganz anderes Gebiet, daß sie vor sich hinmurmelte: »Es ist ja schließlich nicht an mir, den ersten Schritt zu tun, ich bin zwanzig Jahre älter als sie.« Dank der Magie dieser Worte, die sie sich oft wiederholte, konnte sie stolz die nur lose an ihrem Rumpf sitzenden Schultern nach hinten rücken; auf ihnen ruhte fast waagerecht ihr Kopf nach Art eines »aufgesetzten« Fasanenkopfes, der mit allen Federn auf der Tafel erscheint. Dabei war sie im Grunde stämmig, derb, ja eher rundlich; aber die fortwährenden Zurücksetzungen hatten sie gestrafft wie jene Bäume, die durch ihren schlechten Standort am Rand eines Abgrunds genötigt sind, steil nach hinten zu wachsen, um das Gleichgewicht zu bewahren. Da sie, um sich darüber zu trösten, daß sie nicht völlig dasselbe war wie die anderen Guermantes, sich unaufhörlich zu sagen gezwungen war, daß sie sie nur aus Prinzipientreue und aus Stolz so wenig sehe, hatte dieser Gedanke schließlich die Modellierung ihres Körpers bestimmt und eine gewisse stattliche Vornehmheit bei ihr herausgebildet, die in den Augen der bürgerlichen Damen als Zeichen ihrer Abstammung galt und manchmal ein flüchtiges Verlangen in dem müden Blick von Club-Männern aufglimmen ließ. Hätte man die Unterhaltungder Marquise von Gallardon jener Art von Analyse unterworfen, durch die man aus der mehr oder minder großen Häufigkeit der Wiederkehr eines Ausdrucks den Schlüssel eines chiffrierten Textes gewinnt, so hätte man feststellen müssen, daß keine Wendung, selbst die gebräuchlichste nicht, bei ihr so oft vorkam wie »bei meinen Vettern Guermantes«, »bei meiner Tante Guermantes«, »die Gesundheit von Elzéar de Guermantes«, »die Loge meiner Kusine Guermantes«. Wenn man zu ihr von einer berühmten Persönlichkeit sprach, so antwortete sie, daß sie diese zwar nicht persönlich kenne, aber hundertmal bei ihrer Tante Guermantes getroffen habe, und zwar brachte sie durch ihren eisigen Ton und ihre Grabesstimme klar zum Ausdruck, daß, wenn sie sie nicht persönlich kannte, dies an ihren unausrottbaren und unübersteigbaren Grundsätzen liege, an die sie hinten mit den Schultern zu rühren schien wie an die Leitersprossen, auf denen Gymnastiklehrer ihre Zöglinge sich strecken lassen, um ihren Thorax zu kräftigen.
    Nun aber war die Fürstin des Laumes, die niemand hier bei Madame de

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