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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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beim Vorübergehen eines Eintretenden auf den Boden. Als Swann oben an der Treppe angekommen war, auf der ein Bediensteter mit bleichem Gesicht und einem kleinen, mit einer Bandschleife aufgeschürzten Haarzopf nach Art eines Sakristans von Goya 1 oder einer Gerichtsperson aus dem Bühnenrepertoire hinter ihm herging, mußte er an einem Schreibtisch vorbei, hinter dem ein paar Diener, die wie Notare vor großen Registern saßen, sich erhoben und seinen Namen eintrugen. Dann durchschritt er ein kleines Vestibül, das bei seinem Eintreten – so wie manchmal bestimmte Räume für ein einziges Kunstwerk reserviert sind, die dann nach diesem benannt werden und in gewollter Kahlheit außer ihm nichts enthalten – gleich irgendeinem wertvollen, einen Mann auf der Lauer darstellenden Bildwerk Benvenuto Cellinis 2 einen jungen Diener zur Schau stellte, der mit leicht vorgebeugtem Oberkörper dastand und über seinem roten Koller ein noch röteres Gesicht emporreckte, von dem wahre Ströme von Feuereifer, Schüchternheit und Hingabe ausgingen und der so aussah, wie er da mit ungestümen, wachsamen und verzweifelten Blicken die vor dem Salon, in demmusiziert wurde, aufgespannten Aubusson-Wandteppiche zu durchdringen suchte, als würde er mit militärischer Unerschütterlichkeit oder überweltlichem Glauben – Allegorie der Wachsamkeit, Inkarnation der Erwartung, Denkmal der Gefechtsbereitschaft – gleich einem Engel oder einem Turmwächter von einem Bergfried oder vom Turm einer Kathedrale aus nach dem anrückenden Feind oder der Stunde des Jüngsten Gerichts Ausschau halten. Swann blieb nichts mehr zu tun, als in den Raum einzutreten, in dem das Konzert gegeben wurde und dessen Tür ihm ein kettenbeladener Türsteher mit einer so tiefen Verneigung öffnete, als überreiche er ihm die Schlüssel einer Stadt. Er aber dachte an das Haus, in dem er sich in diesem Augenblick hätte befinden können, sofern Odette es ihm gestattet hätte, und die vage Vorstellung einer leeren Milchkanne auf einer Strohmatte griff ihm ans Herz.
    Als jenseits der vorgehängten Wandteppiche auf das Schauspiel der Bediensteten jenes der Gäste folgte, kehrte bei Swann das Bewußtsein der männlichen Häßlichkeit rasch wieder zurück. Selbst diese Häßlichkeit aber von Gesichtern, die er doch so gut kannte, schien ihm neu, seitdem ihre Züge – anstatt für ihn praktisch benutzbare Zeichen für die Identifizierung einer Person zu sein, die ihm bis dahin eine bestimmte Menge von zu verfolgenden Vergnügungen, zu vermeidenden Unannehmlichkeiten oder zu erwidernden Höflichkeiten bedeutet hatten – nur nach ästhetischen Gesichtspunkten geordnet in der Autonomie ihrer Linien ruhten. Und an diesen Männern, von denen Swann sich umringt sah, gab es nichts bis zu den Monokeln, die viele trugen (und von denen er vordem höchstens hätte sagen können, daß eben dieser oder jener sich eines Monokels bediente), was nicht jetzt, losgelöst von der Idee einer allen gemeinsamen Gewohnheit, mit einer Art vonIndividualität ausgestattet erschien. 1 Vielleicht kam es, weil er den General de Froberville und den Marquis von Bréauté, die plaudernd am Eingang standen, nur noch wie zwei Figuren auf einem Bild betrachtete, während sie lange für ihn nützliche Freunde gewesen waren, die ihn in den Jockey-Club eingeführt oder Sekundanten bei einem Duell abgegeben hatten, daß das Monokel des Generals, das zwischen den Lidern wie ein Granatsplitter in einem vulgären, narbendurchfurchten und triumphierenden Antlitz wirkte, als wäre es das einzige Auge mitten in der Stirn des Zyklopen, Swann wie eine grausige Wunde vorkam, auf die jener zwar stolz sein mochte, deren Zurschaustellung aber etwas Indezentes hatte; während jenes, das der Marquis von Bréauté als ein Zeichen der Festlichkeit zu den perlgrauen Handschuhen, dem Chapeau claque, der weißen Fliege hinzufügte und, sobald er sich in Gesellschaft begab, gegen den sonst üblichen Kneifer austauschte (wie auch Swann selbst es tat), an seiner Rückseite wie ein naturwissenschaftliches Präparat unter einem Mikroskop einen von unendlich vielen feinen Liebenswürdigkeitspartikeln wimmelnden Blick geheftet trug, der unaufhörlich die hohen Zimmerdecken, die Schönheit des Festes, das interessante Programm und die Vortrefflichkeit der dargebotenen Erfrischungen mit seinem Lächeln bedachte.
    »Schau, da sind Sie ja auch einmal wieder, man hat Sie ja seit Ewigkeiten nicht gesehen«, sagte der General zu Swann, aus

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