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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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dessen angegriffenen Zügen er folgerte, daß vielleicht eine ernste Erkrankung ihn so lange von der Gesellschaft ferngehalten habe; er setzte also hinzu: »Sie sehen gut aus, wissen Sie!«, während Monsieur de Bréauté einem Gesellschaftsschriftsteller, der soeben als sein einziges Instrument der psychologischen Durchdringung und der unerbittlichen Analyse ein Monokel in den Augenwinkel geschoben hatte, die Frage zuwarf:»Und Sie, mein Lieber, was tun Sie denn hier?«, worauf der andere mit rollendem R und geheimnisvoll wichtiger Miene die Antwort erteilte:
    »Betrachten, beobachten.«
    Das Monokel des Marquis von Forestelle war winzig klein und randlos; so verlieh es dem Gesicht des Marquis – dadurch, daß es ihn zu einer unaufhörlichen, schmerzhaften Verkrampfung des Auges zwang, in das es eingelegt war wie ein überflüssiger Knorpel von unerklärlicher Funktion und kostbarer Substanz – einen Ausdruck zartsinniger Schwermut und bewirkte, daß er im Urteil der Frauen für befähigt galt, großen Liebesschmerz zu empfinden. Jenes von Monsieur de Saint-Candé dagegen war von einem enormen Ring umgeben wie der Planet Saturn und bildete den Schwerpunkt eines Gesichts, das jeden Augenblick seine Züge neu um diesen herumgruppierte und sich mitsamt der roten schwabbelnden Nase und dem sarkastischen, wulstlippigen Mund grimassierend auf der Höhe des Feuerwerks von Geist zu halten versuchte, das aus dieser Glasscheibe zu blitzen schien, die vor den schönsten Blicken der Welt bei snobistischen und verderbten jungen Frauen den Vorrang erhielt, weil sie in ihnen Träume von subtil durchdachten Genüssen und einem unerhörten Raffinement der Lust aufkommen ließ; hinter dem seinen schließlich schien Monsieur de Palancy, der mit seinem dicken Karpfenkopf und den runden Augen sich langsam durch das festliche Treiben schob und von Zeit zu Zeit mit den Kiefern schnappte, als wolle er sich auf diese Weise orientieren, einfach ein beiläufiges und vielleicht rein symbolischen Charakter tragendes Stück von der Glaswand seines Aquariums mit sich zu führen, einen Teil, der das Ganze bezeichnen sollte und Swann, den großen Bewunderer der Giottoschen Tugenden und Laster in Padua, an jenen »Ungerechten« erinnerte, andessen Seite ein belaubter Zweig an die Wälder gemahnt, in denen er seine verborgene Zufluchtsstätte hat. 1
    Swann hatte sich auf Drängen von Madame de Saint-Euverte weiter nach vorn begeben und, um eine Arie aus Orphée zu hören, die von einem Flötisten vorgetragen wurde 2 , in eine Ecke gesetzt, von der aus sein Blick unglücklicherweise auf zwei nebeneinandersitzende reifere Damen beschränkt blieb, die Marquise von Cambremer und die Vicomtesse von Franquetot, die, da sie Kusinen waren, die Zeit bei solchen festlichen Abendveranstaltungen ihr Handtäschchen festhaltend und von ihren Töchtern gefolgt damit zubrachten, sich wie auf einem Bahnhof gegenseitig zu suchen, und erst beruhigt waren, wenn sie mit Fächer oder Taschentuch zwei Plätze nebeneinander belegt hatten; denn Madame de Cambremer, die nur wenige Beziehungen hatte, war um so glücklicher, eine Gefährtin zu finden; Madame de Franquetot hingegen, die in der Gesellschaft erfolgreich lanciert war, fand es elegant und originell, all ihren glänzenden Bekanntschaften vor Augen zu führen, daß sie ihnen eine Dame von unbedeutender Herkunft vorzog, mit der sie Jugenderinnerungen teilte. Mit schwermütiger Ironie sah Swann ihnen zu, wie sie das Zwischenspiel des Klaviers (Liszts Vogelpredigt des heiligen Franziskus 3 ) anhörten, das inzwischen das Flötenstück abgelöst hatte, und die schwindelerregende Fingerfertigkeit des Virtuosen verfolgten, wobei Madame de Franquetot so ängstlich und bestürzt auf die Tasten blickte, über die seine Hand beweglich dahineilte, als seien sie eine Folge von Trapezen, von denen er aus einer Höhe von achtzig Metern herabstürzen könnte, nicht ohne ihrer Nachbarin Blicke staunenden Nichtwahrhabenwollens zuzuwerfen, die so etwas besagten wie: Es ist unglaublich, ich hätte nie gedacht, daß ein Mensch so etwas kann,während Madame de Cambremer als Frau, die eine gründliche musikalische Erziehung genossen hatte, mit ihrem Kopf den Takt angab, als sei er der Zeiger eines Metronoms, dessen Tempo und Schwingungsweite von einer Schulter zur andern so groß geworden waren – dazu kam noch jener entrückte und ergebene Blick, wie man ihn hat, wenn man sich nicht mehr kennt vor Schmerz und sich nicht mehr zu

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