Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
die sie noch für die glanzvollsten Repräsentanten Frankreichs hielt, sie sei ein Engel, um so mehr, als sie bei ihrer Einwilligung in diese Heirat ihres Sohnes lieber der Anziehungskraft ihrer trefflichen Eigenschaften als der ihres großen Vermögens gefolgt sein wollten.
»Man sieht gleich, daß Sie eine von Grund auf musikalische Seele sind, Madame«, sagte der General in unbewußter Anspielung auf den Zwischenfall mit der Tropfschale.
Doch das Konzert nahm weiter seinen Gang, und Swann mußte einsehen, daß er vor dem Ende der neuen Programmnummer nicht werde gehen können. Er litt darunter, hier mit diesen Leuten eingesperrt zu sein, deren Dummheit und Lächerlichkeit ihn um so schmerzlicher berührten, als sie, in Unwissenheit über seine Liebe – und wenn sie davon gewußt hätten, außerstande, sich dafür zu interessieren und etwas anderes zu tun, als darüber zu lächeln wie über eine Kinderei oder sie zu beklagen wie eine Narrheit –, sie ihm unter dem Gesichtspunkt eines ganz subjektiven Zustands erscheinen ließen, der einzig für ihn bestand und dessenWirklichkeit durch nichts Äußeres bekräftigt wurde; er litt ganz besonders und mit einer Intensität, daß selbst der Klang der Instrumente ihm Lust machte, vor Schmerzen aufzuschreien, unter der Tatsache, daß er nun den Aufenthalt an einem Ort noch länger ausdehnen mußte, an den Odette niemals kommen würde, wo niemand, wo nichts sie kannte, von dem sie in jeder Weise abwesend war.
Plötzlich aber war es, als sei sie eingetreten, und diese Erscheinung bereitete ihm einen Schmerz, der ihn so reißend durchfuhr, daß er die Hand an sein Herz führen mußte. Die Geige hatte nämlich eine Folge hoher Töne erreicht, auf denen sie unbeirrt verharrte wie in langer Erwartung, eine Erwartung, die andauerte, ohne daß sie aufgehört hätte, diese Töne auszuhalten, als sehe sie beseligt den Gegenstand ihres Sehnens von ferne näher kommen und versuche nun in verzweifeltem Bestreben, die Zeit bis zu seiner Ankunft zu überdauern, ihn zu empfangen, bevor ihr die Kraft versagte, ihm noch mit äußerstem Bemühen die Wege offenzuhalten, damit er auf ihnen eingehen könne wie durch eine Tür, die man aufhält, da sie sonst zufallen würde. Bevor noch Swann Zeit hatte zu begreifen und sich sagen konnte: Es ist das kleine Thema von Vinteuil, ich darf nicht hinhören!, waren alle seine Erinnerungen aus der Zeit, da Odette in ihn verliebt war, die er bis zu diesem Tag unsichtbar in den Tiefen seines Innern zurückzuhalten vermocht hatte, getäuscht durch diesen flüchtigen Sonnenstrahl aus der für sie zurückgekehrten Zeit der Liebe aufgewacht und hatten sich pfeilschnell erhoben, um ihm mit Macht, ohne Mitleid für seine jetzige Unseligkeit die vergessenen Strophen des Glücks zu singen.
An Stelle der abstrakten Ausdrücke wie »Zeit, da ich glücklich war« oder »Zeit, da sie mich liebte«, die er bisher oft verwendet hatte, ohne dabei allzuvielSchmerz zu empfinden, denn sein Verstand hatte darin von der Vergangenheit nur vermeintliche Auszüge eingeschlossen, die von ihr nichts bewahrten, erfüllte ihn jetzt von neuem all das, was die spezifische und flüchtige Essenz dieses verlorenen Glücks für immer bestimmt hatte; alles sah er wieder, die schneeweißen, krausen Blütenblätter der Chrysantheme, die sie ihm in den Wagen geworfen und die er an seine Lippen gepreßt hatte – die in Reliefbuchstaben eingeprägte Aufschrift: »Maison Dorée« auf jenem Brief, in dem er die Worte las: »Meine Hand zittert so sehr« –, das leichte Zusammenziehen der Brauen, mit dem sie ihn angefleht hatte: »Wird es auch nicht allzulange dauern, bis ich von Ihnen höre?«; er verspürte den Geruch des heißen Eisens, mit dem der Friseur seine »Bürste« gerade richtete, während Lorédan die kleine Arbeiterin abholte, den Duft der Gewitterregen, die in jenem Frühling so häufig niedergegangen waren, die fröstelnde Heimfahrt in seinem Mylord im Mondschein, das ganze Gewebe aus Denkgewohnheiten, jahreszeitlichen Impressionen, Reaktionen der Körperhaut, die über eine Folge von Wochen ein gleichförmiges Netz gebreitet hatten, in dem sein Körper nun wieder gefangen war. Damals befriedigte er eine lustvolle Neugier, indem er die Freuden der Menschen zur Kenntnis nahm, die ganz aus der Liebe leben. Er hatte geglaubt, es dabei belassen zu können und nicht gezwungen zu werden, auch ihren Schmerz zu erfahren; wie trat jetzt der Zauber Odettes so völlig hinter dem
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