Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
ja nicht einmal mir anvertraut.«
Swann, in Begleitung einer Frau, mit der er im Umgang galante Sprachformen bewahrt hatte, gewohnt, Feinsinniges von sich zu geben, das viele Angehörige der mondänen Gesellschaft nicht verstanden, hielt es nicht für nötig, Madame de Saint-Euverte darüber aufzuklären, daß er nur bildlich gesprochen habe. Die Fürstin hingegen lachte hell auf, denn Swanns Art von Geist war in ihrer Coterie sehr geschätzt, außerdem war sie außerstande, ein Kompliment anzuhören, das ihr galt, ohne es äußerst reizvoll und unwiderstehlich launig und lustig zu finden.
»Wirklich! Ich bin begeistert, Charles, daß meine Weißdornbeerchen Ihnen gefallen. Warum begrüßen Sie denn diese Cambremer? Sind Sie etwa auch Nachbarn?«
Als Madame de Saint-Euverte sah, daß die Fürstin sich mit Swann angeregt unterhielt, zog sie sich zurück.
»Aber Sie doch auch, Fürstin.«
»So? Ja, haben diese Leute denn überall Landbesitz? Da tauschte ich gern mit ihnen.«
»Ich meine nicht die Cambremers, sondern die Eltern der jungen Frau; sie ist eine geborene Legrandin, die ausCombray stammt. Wissen Sie überhaupt, Fürstin, daß Sie Gräf in von Combray sind und daß das Kapitel Ihnen einen Grundzins schuldet?«
»Was das Kapitel mir schuldet, weiß ich nicht, aber ich weiß, daß mir der Pfarrer jedes Jahr hundert Francs aus der Tasche zieht, worauf ich sehr gern verzichten würde. Diese Cambremers jedenfalls haben einen seltsamen Namen. Er hört noch gerade zur rechten Zeit auf, aber schon spät genug«, sagte sie lachend.
»Der Anfang ist auch schon bedenklich«, meinte Swann.
»Eine zweifache Abkürzung, wenn man will! …«
»Sie stammt von jemand, der sehr wütend war, aber wußte, was sich schickt, und schon das erste Wort halb verschluckt hat.«
»Aber wenn er dann doch das zweite anbrechen mußte, hätte er lieber das erste vollständig bringen und dann Schluß machen sollen. 1 Eine reizende Art von Witzen erlauben wir uns da, lieber Charles, aber wie traurig, daß man Sie nie mehr sieht«, setzte sie schmeichelnd hinzu, »es plaudert sich doch so nett mit Ihnen. Stellen Sie sich vor, Froberville, dieser Idiot, verstand nicht einmal, daß Cambremer ein erstaunlicher Name ist. Sie werden mir zugeben, daß das Leben etwas Grauenhaftes ist. Nur wenn ich Sie sehe, höre ich einen Augenblick auf, mich zu langweilen.«
Zweifellos war das nicht wahr. Doch Swann und die Fürstin hatten eine gleiche Art, die kleinen Dinge des Lebens zu sehen, und die Wirkung – wenn nicht Ursache – war eine große Ähnlichkeit der Ausdruckswahl, ja sogar der Aussprache. Diese Ähnlichkeit fiel nicht sehr auf, da ihrer beider Stimmen denkbar verschieden waren. Wenn man aber in Gedanken Swanns Äußerungen von dem sie umhüllenden volleren Stimmklang löste und von dem Schnurrbart absah, hinter dem siehervorkamen, wurde einem klar, daß es sich um das gleiche Genre von Bemerkungen, den gleichen Tonfall, die ganze gleiche der Coterie Guermantes eigentümliche Art handelte. In bezug auf die wichtigen Dinge stimmten Swann und die Fürstin in keinem Punkt überein. Doch seit Swann so traurig und unaufhörlich im Zustand jener Erregung und Rührung war, die dem Augenblick vorausgeht, wo man in Tränen ausbricht, hatte er das gleiche Bedürfnis, von seinem Kummer zu sprechen, wie ein Mörder es fühlt, von seinem Verbrechen zu reden. Als die Fürstin zu ihm sagte, das Leben sei etwas Grauenhaftes, empfand er das gleiche sanfte Wohlgefühl, als redete sie zu ihm von Odette.
»Ja, das Leben ist etwas Grauenhaftes. Wir müssen uns wieder öfter sehen, ma chère amie. Was den Umgang mit Ihnen so angenehm macht, ist, daß Sie nicht lustig sind. Wir sollten einmal wieder einen Abend zusammensein.«
»Und ob wir das sollten. Aber warum kommen Sie nicht nach Guermantes? Meine Schwiegermutter wäre wer weiß wie froh. Die Gegend gilt als häßlich, aber ich muß Ihnen sagen, sie mißfällt mir nicht, ich hasse ›malerische‹ Regionen.«
»Und ob es dort schön ist! Ich bewundere die Landschaft sogar sehr. Sie ist fast zu schön, zu lebendig für mich im Augenblick. Es ist eine Gegend, in der man glücklich sein sollte. Vielleicht kommt es daher, daß ich selbst dort gelebt habe: alles spricht mich so stark dort an. Wenn sich ein Lüftchen regt, wenn es im Kornfeld rauscht, habe ich das Gefühl, daß jemand kommt, daß eine Botschaft auf dem Wege zu mir ist; und die kleinen Häuser am Uferrand … ich wäre sehr unglücklich
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