Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
Vom Netzwerk:
wie ein Duft, wie eine Liebkosung, war er sich klargeworden, daß durch den geringen Abstand zwischen den fünf Noten, aus denen es bestand, und der unaufhörlichen Wiederkehr von zweien von ihnen dieser bestimmte Eindruck von stets sich zurücknehmender fröstelnder Süße darin zustande kam; in Wirklichkeit aber wußte er, daß er in dieser Weise nicht über das Thema selbst argumentierte, sondern über einfache Werte, durch die er für ein bequemeres Verständnis die geheimnisvolle Wesenheit ersetzte, die er noch vor der Bekanntschaft mit den Verdurins an jenem Abend wahrgenommen hatte, als er die Sonate zum ersten Mal hörte. Er wußte, daß sogar noch das Erinnerungsbild des Klaviers den Hintergrund fälschte, auf dem er die Dinge der Musik sich bewegen sah, daß das eigentliche Feld, das dem Musiker offensteht, nicht eineschäbige Klaviatur von sieben Tönen, sondern eine unermeßliche, noch beinahe völlig unbekannte Klaviatur ist, in der nur hier und da, durch dichtes, unerforschtes Dunkel voneinander getrennt, einige ihrer Millionen Klangtasten der Zärtlichkeit, der Leidenschaft, der Tapferkeit, der Heiterkeit, jede so verschieden von den anderen wie eine Welt von einer anderen Welt, von einigen großen Künstlern entdeckt worden sind, die in uns etwas dem von ihnen gefundenen Thema Entsprechendes erwecken und uns dadurch den Dienst erweisen, uns zu zeigen, welchen Reichtum und welche Vielfalt, ohne daß wir uns dessen bewußt wären, jene tiefe, unbetretene und entmutigende Nacht unserer Seele birgt, die wir für Leere halten und für Nichts. Vinteuil war ein solcher Komponist gewesen. Obwohl sein kleines Thema der Vernunft eine dunkle Oberfläche darbot, spürte man darin einen so treffenden, so unzweideutigen Inhalt, dem es eine so neue und originale Kraft verlieh, daß alle, die es gehört hatten, es da in sich aufbewahrten, wo die Ideen des Geistes ihre Stätte haben. Swann konnte sich darauf beziehen wie auf eine Auffassung von Liebe und Glück, von der er ebenso gut wußte, worin das Besondere bestand, wie er es von La Princesse de Clèves oder von René wußte, wenn diese Titel in seinem Gedächtnis auftauchten. 1 Selbst wenn er nicht an das kleine Thema dachte, war es latent in seinem Geist vorhanden in der gleichen Weise wie gewisse andere Begriffe, für die es nicht ihresgleichen gibt, wie die Vorstellung von Licht, von Ton, von Tastbarkeit oder physischer Lust, die den reichen Grundbestand bilden, in denen die Bezirke unseres Innern sich differenzieren und die ihren Schmuck ausmachen. Vielleicht verlieren wir sie, vielleicht erlöschen sie bei unserer Rückkehr ins Nichts. Doch solange wir leben, können wir ebensowenig so tun, als würden wir sie nicht kennen, wie dies inbezug auf ein wirkliches Objekt ginge, genausowenig wie wir zum Beispiel an dem Licht der Lampe zweifeln können, die vor den verwandelten Gegenständen unseres Zimmers entzündet wird, aus dem im gleichen Augenblick alles Dunkel entschwindet, ja selbst die Erinnerung daran. Dadurch aber hatte das Thema von Vinteuil wie irgendein Motiv aus Tristan , das ebenso eine Ausweitung unserer Gefühlswelt bedeutet, Anteil bekommen an unserem sterblichen Geschick, etwas Menschliches angenommen, das zutiefst rührend war. Sein Los war von da mit der Zukunft, der Wirklichkeit unserer Seele verknüpft; es gehörte zu ihrem ganz besonderen, ganz eigentümlichen Schmuck. Vielleicht ist das Nichts das Wahre, und all unser Träumen hat kein wirkliches Sein; dann aber wissen wir aus dem Gefühl, daß diese musikalischen Ideen und alles, was in Beziehung auf sie entsteht, ebenfalls nichts ist. Wir gehen dahin, doch als Geiseln haben wir diese Gefangenen göttlichen Geschlechts, die unser Schicksal teilen werden. Der Tod mit ihnen aber hat weniger Bitternis, ist weniger ruhmlos, ja er erscheint vielleicht nicht einmal mehr so gewiß.
    Swann hatte also nicht unrecht zu glauben, daß das Thema der Sonate wirklich existiere. Gewiß war es menschlich in dieser Sicht, dennoch aber gehörte es einer Ordnung übernatürlicher Wesen an, die wir niemals gesehen haben und doch mit Entzücken erkennen, wenn es einem Erforscher des Unsichtbaren gelingt, eines davon einzufangen und es aus der göttlichen Welt, zu der er Zugang hat, herauszuführen, um es für einige Augenblicke über der unseren erstrahlen zu lassen. Das war dank Vinteuil mit dem kleinen Thema geschehen. Swann fühlte, daß der Komponist nicht mehr getan hatte, als es mit seinen

Weitere Kostenlose Bücher