Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
furchtbaren Grauen zurück, das jenen wie ein trüber Dunstkreis umgab, hinter der ungeheuerlichen Angst, nicht jeden Augenblick zu wissen, was sie tat, sie nicht überall und zu jeder Zeit ganz für sich allein zu haben! Ach, er erinnerte sich, in welchem Ton sie ausgerufen hatte: »Aber immer kann ich Sie sehen, ich bin immer frei!« – sie, die es jetzt nie mehr war! – er erinnerte sich andas Interesse, die Neugier, die sie für sein Dasein an den Tag gelegt, den leidenschaftlichen Wunsch, den sie bekundet hatte, er möge ihr die Gunst erweisen – die damals jedoch in ihm eine Art Furcht wie vor einer möglicherweise ärgerlichen Beeinträchtigung auslöste –, sie darin eindringen zu lassen; wie sie ihn hatte bitten müssen, damit er sich zu den Verdurins mitnehmen ließ; und wie, als er sie einmal im Monat zu sich kommen ließ, sie ihm jedesmal, bevor er nachgab, wiederholen mußte, wie bezaubernd es sein würde, sich alle Tage zu sehen, ein Brauch, von dem sie damals träumte – während er ihm nur wie eine lästige Störung seiner Gewohnheiten erschien, gegen den dann aber sie eine Abneigung bekam, so daß sie schließlich damit brach, als er für ihn zu einem unbezwinglichen, schmerzhaften Bedürfnis geworden war. Er hatte nur allzu recht gehabt, als er ihr bei ihrer dritten Zusammenkunft, damals, als sie immer wieder sagte: »Warum lassen Sie mich nicht öfter kommen?«, galant und lächelnd geantwortet hatte: »Aus Furcht, zu leiden.« Jetzt, ach! kam es auch noch manchmal vor, daß sie ihm von einem Restaurant oder Hotel aus schrieb auf Papier, das oben den betreffenden Namen trug; jetzt aber waren diese Buchstaben für ihn wie brennende Feuermale. Sie schreibt aus dem Hotel Vouillemont? 1 Weshalb mag sie da sein? Mit wem? Was hat sich dort zugetragen? Er dachte an die Gasflammen, die auf dem Boulevard des Italiens ausgelöscht wurden, als er sie wider alle Hoffnung unter den irrenden Schatten getroffen hatte in jener Nacht, die ihm fast übernatürlich vorgekommen war und die tatsächlich – als eine Nacht aus der Zeit, wo er sich nicht einmal zu fragen brauchte, ob er sie durch sein Suchen und Wiederfinden nicht verstimmen würde, so sicher durfte er damals sein, daß es für sie keine größere Freude gab als die, ihn zu sehen und mit ihm nach Hause zu gehen – einer geheimnisvollenWelt angehörte, in die man nie zurückkehren kann, wenn einmal die Pforten wieder geschlossen sind. Und Swann sah vor diesem wiederdurchlebten Glück unbeweglich einen Unglücklichen stehen, der, weil er ihn nicht gleich erkannte, sein Mitgefühl erregte, so daß er die Augen senken mußte, damit niemand sah, daß sie voll Tränen standen. Dieser Unglückliche war er selbst.
Als er es begriffen hatte, hörte sein Mitleid zwar auf, doch er fühlte sich eifersüchtig auf jenes andere Selbst, das sie geliebt hatte, eifersüchtig auch auf die, von denen er sich, ohne deswegen allzusehr zu leiden, oft gesagt hatte: »sie liebt sie vielleicht«, jetzt, wo er die unbestimmte Idee des Liebens, in der noch selbst keine Liebe liegt, mit den Chrysanthemenblüten und dem Briefkopf der Maison d’Or vertauscht hatte, die ihrerseits voll davon waren. Als sein Leiden zu heftig wurde, strich er sich mit der Hand über die Stirn, ließ sein Monokel fallen und putzte das Glas. Hätte er sich in diesem Augenblick gesehen, er hätte bestimmt in seine Sammlung bemerkenswerter Monokel auch jenes aufgenommen, das er ablegte, als wolle er damit einen lästigen Gedanken abstreifen, und auf dessen beschlagener Oberfläche er mit dem Taschentuch einen Kummer wegzuwischen versuchte.
Es liegt ein Timbre im Klang der Geige – wenn man das Instrument nicht sieht und das, was man hört, nicht auf seinen Anblick beziehen kann, der die Klangfarbe unwillkürlich modifiziert –, das so sehr dem gewisser Altstimmen gleicht, daß man der Täuschung erliegen kann, es sei eine Singstimme zu dem Konzert hinzugetreten. Man hebt den Blick, sieht nur die Behälter des Klangs, so kostbar wie chinesische Schreine, und für Augenblicke wird man dennoch wieder durch den betörenden Ruf der Sirene irregeführt; manchmal glaubtman auch, einen gefangenen Geist zu hören, der sich zuinnerst in dem kunstreichen, verzauberten und erbebenden Behältnis regt und zu befreien sucht wie der Teufel im Weihwasserbecken; manchmal endlich scheint durch die Luft ein Wesen, rein und aus überirdischen Welten stammend, zu entschweben, indem es seine unsichtbare Botschaft
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