Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
entrollt.
Es war, als ob die Instrumentalisten nicht eigentlich das kleine Thema spielten, sondern viel eher die Riten vollzogen, die es verlangte, um zu erscheinen, und die Zauberformeln aussprächen, die notwendig waren, um das Wunder seiner Heraufbeschwörung zu bewirken und ihm für einige Augenblicke Dauer zu verleihen; so vermochte denn Swann es nicht klarer zu erkennen, als wenn es einer Welt ultravioletter Strahlen angehört hätte; in der gegenwärtigen Blindheit, mit der er geschlagen war, kostete er, als er sich ihm näherte, gleichsam die Erfrischung einer Metamorphose und spürte, daß es in seiner Nähe war wie eine schützende Gottheit, eine Gottheit, die die Vertraute seiner Liebe war und die, um inmitten der Menge bis zu ihm vorzudringen und abseits mit ihm sprechen zu können, sich die Hülle dieser akustischen Erscheinung umgelegt hatte. Und während es wie ein Duft, leicht, beschwichtigend, raunend vorüberstrich und ihm sagte, was es zu sagen hatte, versuchte er, alle Worte dieser Botschaft zu erfassen, bedauerte, sie so rasch entschwinden zu sehen, und formte unwillkürlich die Lippen zu einem Kuß, den er der flüchtig und harmonisch entschwebenden Gestalt aufdrücken wollte. Er fühlte sich nicht mehr vertrieben und einsam, da diese Stimme, die zu ihm sprach, mit gedämpftem Laut von Odette redete. Denn er meinte nicht mehr wie einst, daß das kleine Thema von ihm und Odette nichts wisse. Zu oft war es Zeuge ihrer Freuden gewesen! Freilich hatte es ihn auch oft vor derenVergänglichkeit gewarnt. Doch während er in jenen Zeiten das Leid in seinem Lächeln, in seinem illusionslos klaren Stimmklang erriet, fand er heute eher darin die Anmut fast heiterer Resignation. Von jenen Kümmernissen, die es ihn früher ahnen ließ und die es, ohne daß er von ihnen berührt worden wäre, in seinem gewundenen, raschen Lauf lächelnd mit sich forttrug, von jenen Kümmernissen, die jetzt die seinen geworden waren, ohne daß er hoffen durfte, sich jemals daraus zu lösen, schien es ihm wie einst von seinem Glück zu sagen: »Was ist das schon? Es ist alles nichts.« Und zum ersten Mal dachte Swann mit Mitleid und Zärtlichkeit an Vinteuil, jenen unbekannten, erhabenen Bruder im Leid, der ebenfalls so großen Schmerz hatte erfahren müssen; wie mochte sein Leben gewesen sein? Aus welchen Leidenstiefen hatte er die Gotteskraft geschöpft, jenes grenzenlose Schöpfertum? Wenn das kleine Thema von der Eitelkeit seines Kummers sprach, fand Swann eine süße Tröstung in jener gleichen Weisheit, die ihm eben noch unerträglich erschienen war, als er sie auf den Mienen gleichgültiger Menschen zu lesen meinte, die seine Liebe als ein Hirngespinst ansahen, dem keine Wichtigkeit beizumessen war. Das kleine Thema nämlich sah darin, welche Meinung es auch über die kurze Dauer solcher Seelenzustände haben mochte, nicht wie alle diese Leute etwas weniger Ernstes, als das wirkliche Leben es ist, sondern im Gegenteil etwas so weit Darüberstehendes, daß nur dies allein sich auszudrücken lohnte. Gerade diese Reize einer zuinnerst gefühlten Trauer versuchte es nachzubilden, ja von neuem zu schaffen, und zwar in ihrem tiefsten Wesen, obgleich dieses doch darin besteht, daß sie nicht mitteilbar sind und jedem anderen als dem, der sie an sich erlebt, eitel erscheinen müssen; das kleine Thema hatte dieses Wesen erfaßt und sichtbar gemacht. Deshalb zwang es alle, den Wert dieser Reize zubekennen, und ließ alle deren göttliche Süße kosten, alle jene selben Anwesenden – sofern sie auch nur ein wenig musikalisch waren –, die sie hinterher im Leben, jedes Mal, wenn sie in ihrer Nähe eine einzelne Liebe aufkeimen sähen, nicht erkennen würden. Sicher konnte die Form, in der diese Reize fixiert waren, nicht vernunftmäßig aufgelöst werden. Doch seit mehr als einem Jahr, nachdem die Liebe zur Musik, die ihm so viele Reichtümer seiner Seele offenbart hatte, wenigstens für einige Zeit in ihm aufgekommen war, hielt Swann die musikalischen Motive für wirkliche Ideen aus einer anderen Welt, einer anderen Ordnung angehörig, von Dunkel eingehüllte, unbekannte, mit den Mitteln des Geistes nicht zugängliche Ideen, die dadurch jedoch nicht weniger voneinander unterschieden waren, ungleich an Bedeutung und Wert. Wenn er sich das kleine Thema aus der Sonate von Vinteuil nach jenem Abend bei den Verdurins wieder vorspielen ließ und herauszufinden versuchte, wieso es ihm von allen Seiten entgegenschlug und ihn einhüllte
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