Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
von einer schnöden Handlungsweise oder den undelikaten Gefühlen eines anderen sprach, so verurteilte sie sie aufgrund der gleichen Grundsätze, die Swann immer von seinen Eltern hatte predigen hören und denen er treu geblieben war; dann ordnete sie die Blumen in einer Vase, trank eine Tasse Tee underkundigte sich besorgt nach dem Fortgang von Swanns Arbeiten. Diese Gewohnheiten nun dehnte Swann in Gedanken auch auf das übrige Leben Odettes aus, er wiederholte nur diese Gesten, wenn er sich die Momente ausmalen wollte, die sie fern von ihm verbrachte. Wenn sie ihm jemand so vor Augen gestellt hätte, wie sie mit ihm war oder vielmehr lange Zeit gewesen war, jedoch mit einem anderen Mann, so hätte er gelitten, denn dieses Bild wäre ihm glaubhaft erschienen. Daß sie aber mit Kupplerinnen in Verbindung stand, Orgien mit anderen Frauen beging, das schmutzige Dasein verworfener Kreaturen führte, wäre ihm als Wahnidee erschienen, die ja Gott sei Dank durch die Chrysanthemen, an die er zurückdachte, die vielen Tee-Stunden, ihre tugendhafte Entrüstung auf der Stelle widerlegt wurden. Nur von Zeit zu Zeit gab er Odette zu verstehen, daß die Leute boshaft genug seien, ihm alles zu erzählen, was sie tue und lasse; und dadurch, daß er eine unbedeutende, aber wahre Einzelheit, die er zufällig erfahren hatte, so vorbrachte, als sei sie ein nur aus Versehen ihm entschlüpftes Detail aus einer vollständigen Rekonstruktion von Odettes Leben, die er insgeheim in sich herumtrage, flößte er ihr die Meinung ein, er sei über Dinge unterrichtet, die er in Wirklichkeit nicht wußte und nicht einmal argwöhnte, denn wenn er auch oft Odette beschwor, der Wahrheit die Ehre zu geben, so doch nur, ob es ihm nun bewußt war oder nicht, damit Odette ihm alles mitteilte, was sie tat. Sicher liebte er, wie er Odette gegenüber behauptete, die Aufrichtigkeit, doch er liebte sie gleichsam als eine Kupplerin, die ihn über das Leben, das seine Geliebte führte, auf dem laufenden hielt. So hatte seine Liebe zur Aufrichtigkeit, da sie keineswegs selbstlos war, ihn auch nicht besser gemacht. Die Wahrheit, die er liebte, war die, die ihm Odette gestehen würde; um aber an diese Wahrheit zu kommen, war jeneselbe Lüge ihm recht, die er Odette unaufhörlich als den sicheren Weg ausmalte, der jede menschliche Kreatur in die Würdelosigkeit führe. Alles in allem log er genausoviel wie Odette, da er zwar unglücklicher als sie, nicht aber minder egoistisch war. Und sie, wenn sie Swann in dieser Weise Dinge, die sie getan hatte, ihr schildern hörte, sah ihn mißtrauisch an und tat für alle Fälle empört, damit es nicht scheine, als fühle sie sich ertappt und schäme sich ihrer Handlungen.
Eines Tages hatte er während einer der längsten Ruheperioden, die er ohne Eifersuchtsanfälle bisher durchlebt hatte, zugesagt, mit der Fürstin des Laumes ins Theater zu gehen. Als er die Zeitung aufschlug, um zu sehen, was gespielt würde, bedeutete für ihn der Anblick des Titels Les filles de marbre von Théodore Barrière 1 einen so grausamen Schlag, daß er eine Sekunde zurückprallte und den Blick abwandte. Als er es hier wie von Rampenlicht angestrahlt und an dieser ganz neuen Stelle vor sich sah, wurde das Wort »Marmor«, das ihm sonst gar nicht mehr auffiel, so oft war es ihm vor Augen gekommen, unvermittelt wieder sichtbar und rief ihm eine Geschichte, die Odette früher einmal erzählt hatte, ins Gedächtnis zurück: es handelte sich um einen Besuch im Salon des Palais de l’Industrie 2 mit Madame Verdurin, bei dem diese geäußert hatte: »Sieh dich vor, ich kann dich zum Auftauen bringen, du bist nicht aus Marmor.« Odette hatte ihm gegenüber behauptet, es sei nur ein Scherz gewesen, und er hatte die Sache dann auch auf sich beruhen lassen. Damals aber hatte er ihr noch mehr vertraut als jetzt. Der anonyme Brief jedoch erwähnte gerade Liebschaften dieser Art. Er wagte nicht, noch einen weiteren Blick auf diese Seite der Zeitung zu werfen, sondern entfaltete sie ganz und wendete die Blätter um, damit er nicht noch einmal den Titel Les filles de marbre sehen müßte. Mechanisch überflog er dieNachrichten aus der Provinz. Im Kanal hatte ein Sturm gewütet, es war von Verwüstungen in Dieppe, Cabourg und Beuzeval die Rede. Wiederum war es für ihn wie ein Schlag.
Der Name Beuzeval rief in seinem Bewußtsein den eines anderen Orts in jener Gegend wach, Beuzeville, an den mit einem Bindestrich ein anderer hinzugesetzt ist, nämlich
Weitere Kostenlose Bücher