Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
sagte: »Wie ist es denn mit dieser Reise, die du mit Forcheville nach Ägypten machen willst«, antwortete sie unbedacht: »Ja, lieber Junge, wir reisen am neunzehnten; wir werden dir eine Karte schicken mit den Pyramiden darauf.« Da hätte er gern wissen mögen, ob sie Forchevilles Geliebte war, am liebsten sie selbst danach gefragt. Er wußte, daß sie, abergläubisch wie sie war, gewisse Dinge nicht abschwören würde, und außerdem fiel die Furcht, die ihn so lange zurückgehalten hatte, nämlich Odette durch seine Fragen zu reizen, jetzt fort, nachdem er die Hoffnung aufgegeben hatte, jemals wieder von ihr geliebt zu werden.
Eines Tages bekam er einen anonymen Brief, in dem ihm mitgeteilt wurde, Odette sei die Geliebte zahlloser Männer gewesen (von denen einige aufgeführt wurden, darunter Forcheville, Monsieur de Bréauté und der Maler) und auch von Frauen, außerdem suche sie Stundenhotels auf. Ihn schmerzte zu denken, daß unter seinen Freunden jemand imstande sein sollte, ihm diesen Brief zu schreiben (denn aus gewissen Einzelheiten ging bei dem, der diese Zeilen geschrieben hatte, eine intime Kenntnis von Swanns Leben hervor). Er überlegte, wer es sein könnte. Doch er hatte niemals die ihm unbekannten Handlungen der anderen beargwöhnt, das heißt solche, die durch kein sichtbares Band mit ihren Worten verknüpft waren. Wenn er wissen wollte, ob er die unbekannte Region, in der diese schmähliche Handlung hatte entstehen können, eher in der Wesensart von Monsieur de Charlus, Monsieur des Laumes, Monsieur d’Orsan, wie sie sich nach außen zeigten, zu suchen habe, sah er, da keiner von ihnen jemals in seiner Gegenwart das Schreiben anonymer Briefe gutgeheißen hatte, vielmehralles, was sie geäußert hatten, einschloß, daß sie es mißbilligten, keine Gründe, weshalb er diese Infamie eher mit der Natur des einen als des anderen in Verbindung bringen sollte. Die von Charlus neigte ein wenig zur Extravaganz, war aber im Grunde herzensgut; die von des Laumes etwas trocken, aber gesund und ehrenhaft. Was Monsieur d’Orsan anbetraf, so war Swann niemals jemandem begegnet, der selbst unter den traurigsten Umständen ihm mit so aufrichtig empfundenen Worten und einem so unbefangenen und richtigen Verhalten entgegengetreten wäre. Das ging so weit, daß er die unfeine Rolle, die Monsieur d’Orsan in einer Beziehung mit einer reichen Frau angeblich spielte, so wenig begreifen konnte, daß er jedesmal, wenn er an ihn dachte, von diesem schlechten Ruf absehen mußte, der mit so vielen eindeutigen Beweisen des Zartgefühls unvereinbar war. Einen Augenblick hatte Swann das Gefühl, daß sein Geist sich verwirrte, er dachte an etwas anderes, um wieder klarer zu sehen. Dann fand er den Mut, nochmals zu seinen Überlegungen zurückzukehren. Da er aber niemand Bestimmten verdächtigen konnte, mußte er wohl oder übel alle verdächtigen. Monsieur de Charlus war ihm alles in allem zugetan und hatte ein gutes Herz. Er war aber ein Neurastheniker, er würde vielleicht morgen Tränen vergießen, weil er erfuhr, sein Freund Swann sei krank, doch heute hatte er aus Eifersucht, aus Ärger oder irgendeiner plötzlich aufgetauchten Idee heraus ihm Böses zufügen wollen. Im Grunde war diese Menschensorte ja die schlimmste von allen. Gewiß, der Fürst des Laumes war weit entfernt, Swann so zu lieben wie Monsieur de Charlus. Gerade deswegen konnte er aber in bezug auf ihn nicht so empfindlich wie jener sein; außerdem war er zweifellos eine kalte Natur, gleich unfähig zur Schurkerei wie zu großen Taten. Swann bedauerte, daß er im Leben sich nichtausschließlich an solche Art von Menschen angeschlossen hatte. Dann bedachte er, daß einzig Güte die Menschen daran hindert, ihrem Nächsten Böses zuzufügen, und daß er im Grunde nur für die der seinen ähnlichen Naturen einstehen könne, wie es bezüglich des Herzens wenigstens die von Charlus war. Der bloße Gedanke, Swann solchen Kummer zu machen, hätte jenen aufs tiefste verstört. Doch bei einem fühllosen Menschen, der einer ganz anderen Menschengattung angehörte, wie dem Fürsten des Laumes, konnte man nicht voraussehen, zu welchen Handlungen Beweggründe ihn führen könnten, die einer von der Swanns so völlig verschiedenen Wesensart entstammten. Ein Herz haben ist alles, und das jedenfalls hatte Monsieur de Charlus. Auch d’Orsan konnte man es nicht absprechen, und seine herzlichen, wenn auch nicht intimen Beziehungen zu Swann, die auf der angenehmen
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