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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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habe, sich von ihm heiraten zu lassen), die Freundschaft von Charlus, der in Wirklichkeit nie viel für ihn bei Odette erreicht hatte, aber ihm die wohltuende Gewißheit verschaffte, daß sie von ihm in schmeichelhaften Wendungen reden hörte dank diesem gemeinsamen Freund, dem sie so große Achtung entgegenbrachte, schließlich sogar seine Intelligenz, die er ganz darauf verwandte, jeden Tag etwas Neues auszudenken, was seine Gegenwart für Odette angenehm, ja notwendig machen könnte –, dachte er daran, was aus ihm geworden wäre, wenn er das alles nicht hätte,dachte, daß, wenn er wie so viele andere arm, von niederer Herkunft, aller Möglichkeiten beraubt und gezwungen, jeden Broterwerb anzunehmen, oder mit Eltern, mit einer Frau belastet wäre, er dann vielleicht Odette hätte verlassen müssen, und der Traum, dessen Grauen ihm noch in den Gliedern lag, zur Wahrheit geworden wäre, und sagte sich: Man kennt sein Glück nicht. Man ist nie so unglücklich, wie man glaubt. 1 Dann aber stellte er sich vor, daß diese Existenz nun schon Jahre andauerte, daß er als Äußerstes hoffen durfte, daß es immer so weiterginge, daß er seine Arbeit, seine Vergnügungen, seine Freunde, sein ganzes Leben endlich der täglichen Erwartung einer Begegnung zum Opfer brächte, aus der nichts Glückliches für ihn hervorgehen könne; und er fragte sich, ob er sich auch nicht täusche, ob nicht gerade alles, was diese Verbindung begünstigt und den Bruch verhindert hatte, seinem Schicksal abträglich gewesen sei, ob nicht das wünschenswerte Ereignis gerade dasjenige sei, an dem er sich nur freute, solange es einzig im Traume eintrat: daß er ginge; er sagte sich, daß man sein Unglück nicht kennt und niemals so glücklich ist, wie man glaubt.
    Manchmal hoffte er, sie werde ohne zu leiden bei einem Unfall umkommen, da sie ja von morgens bis abends soviel auf Straßen und Landstraßen unterwegs war. Und da sie immer heil und gesund wieder nach Hause kam, bewunderte er, wie geschmeidig und kraftvoll der menschliche Körper doch war, daß er unaufhörlich alle ihn umlauernden Gefahren (die Swann zahllos schienen, seitdem sein geheimes Wünschen sie überall unterstellte) von sich abhielt, ihnen ein Schnippchen schlug und den Menschen gestattete, nahezu ungestraft ihren Werken der Lüge und ihrem Trachten nach Lust nachzugehen. Dann fühlte sich Swann im Herzen jenem Muhammad II. verwandt, dessen Porträt von Belliniihm so lieb war; dieser Sultan hatte, als er innewurde, daß er eine seiner Frauen bis zum Wahnsinn liebte, sie kurzerhand erdolcht, um – wie sein venezianischer Biograph ganz naiv berichtet – die Freiheit seines Geistes wiederzuerlangen. 1 Dann wiederum entrüstete er sich über sich selbst, daß er so ausschließlich auf sich bedacht war, und die Leiden, die er erduldete, schienen ihm keines Mitleids wert, da er selbst Odettes Leben so gering veranschlagt hatte.
    Da er sich nicht endgültig von ihr trennen konnte, hätte wenigstens ein pausenloses Zusammensein mit ihr seinen Kummer beschwichtigt und vielleicht seine Liebe zum Erlöschen gebracht. Wenn sie schon Paris nicht für immer verlassen wollte, hätte er gern gesehen, sie verließe es nie. Da er wußte, daß die einzige längere Abwesenheit, die sie jeweils plante, immer für August und September vorgesehen war, hatte er wenigstens mehrere Monate im voraus Muße, den bitteren Gedanken daran auf die ganze zukünftige Zeit zu verteilen, die er vorwegnehmend in sich trug und die, aus Tagen zusammengesetzt, die den gegenwärtigen glichen, durchsichtig und kalt in seinem Geiste zirkulierte, wo sie der Trauer Nahrung gab, ohne ihm dabei allzu spürbare Leiden zu bereiten. Doch diese im Innern vorbereitete Zukunft, ihr farbloser, frei dahinfließender Strom konnte durch ein einziges Wort Odettes, das in der Tiefe von Swanns Leben auf ihn traf, wie unter der Wirkung eines Eisklotzes zum Stillstand kommen, sein Fluß konnte fest werden, er konnte gänzlich zu Eis erstarren; Swann spürte sie dann in sich wie eine ungeheure blockartige Masse, die gegen die Innenwände seines Wesens drückte, als wollte sie sie zersprengen. Eines Tages nämlich hatte Odette lächelnd und mit spöttisch beobachtendem Blick zu ihm gesagt: »Forcheville hat zu Pfingsten eine schöne Reise vor. Er will nach Ägyptenfahren«, und Swann hatte sofort begriffen, daß das bedeutete: »Pfingsten fahre ich mit Forcheville nach Ägypten.« Und tatsächlich, als Swann ein paar Tage darauf zu ihr

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