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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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Bréauté; er hatte ihn oft auf den Karten gesehen, machte sich aber jetzt zum ersten Mal klar, daß es ja der Name seines Freundes Monsieur de Bréauté sei, von dem der anonyme Brief behauptete, er sei Odettes Liebhaber gewesen. Wenn man es recht bedachte, war die Unterstellung für Monsieur de Bréauté nicht eben unwahrscheinlich, während die Sache mit Madame Verdurin einfach unmöglich schien. Aus der Tatsache, daß Odette manchmal log, konnte man nicht ableiten, daß sie niemals die Wahrheit sprach, und in den Gesprächen zwischen ihr und Madame Verdurin, von denen sie berichtete, hatte er deutlich jene Art von albernen, wenn auch bedenklichen Scherzen erkannt, wie Frauen in ihrer Unerfahrenheit und Unkenntnis des Lasters sie austauschen und in denen sich gerade ihre Ahnungslosigkeit zeigt; Frauen noch dazu, die – wie zum Beispiel Odette – denkbar weit davon entfernt sind, schwärmerisch zärtliche Gefühle für andere ihresgleichen zu hegen. Andererseits paßte die Empörung, mit der sie den Argwohn, den ihre Erzählung unwillkürlich einen Augenblick in ihm geweckt hatte, von sich wies, gut zu allem, was er von den Neigungen und dem Temperament seiner Geliebten wußte. In diesem Augenblick nun aber erinnerte sich Swann in einer jener Eingebungen der Eifersucht, die jenen gleichen, die dem Dichter oder Gelehrten, der erst über einen Reim oder eine vereinzelte Beobachtung verfügt, die Idee oder das Gesetz offenbaren, aus denen ihnen auf einmal ihre ganze Kraft erwächst, zum erstenMal an einen Ausspruch Odettes, der bereits zwei Jahre zurücklag: »Oh, im Augenblick existiert für Madame Verdurin überhaupt niemand außer mir, ich bin ihr Liebling, sie küßt mich ab, ich soll alle ihre Besorgungen mit ihr machen, sie möchte, daß wir uns duzen.« Weit entfernt, den Satz damals schon im Zusammenhang mit den absurden, sich lasterhaft gebärdenden Äußerungen zu sehen, die Odette ihm wiederholt hatte, nahm er ihn zu jener Zeit nur als Beweis einer herzlichen Freundschaft hin. Nun aber trat mit einem Mal die Erinnerung an die zärtlichen Gefühle von Madame Verdurin zu der Erinnerung an jene geschmacklose Unterhaltung hinzu. Er konnte sie in seinem Bewußtsein nicht mehr voneinander trennen und sah sie auch in der Wirklichkeit auf das innigste verquickt, wobei jene Zärtlichkeit den scherzhaften Reden etwas Ernstes beimischte und diese wiederum jenem Gefühl seine Unschuld nahmen. Er ging zu Odette. In einiger Entfernung von ihr setzte er sich hin. Er wagte nicht, sie zu küssen, da er nicht wußte, ob bei ihr oder ihm Zuneigung oder Haß aus einem Kuß entstände. Er sah schweigend zu, wie ihre Liebe starb. Plötzlich faßte er einen Entschluß. 1
    »Odette, mein Herz«, sagte er, »ich weiß, ich bin ein schrecklicher Mensch, aber ich muß dich einmal nach ein paar Dingen fragen. Du weiß doch noch, was ich einmal von dir und Madame Verdurin gedacht habe? Sag mir, ob es wahr ist oder ob etwas Ähnliches mit einer anderen Frau gewesen ist.«
    Sie schüttelte den Kopf und preßte die Lippen zusammen, womit häufig Menschen auf die Frage: »Schauen Sie sich den Festzug an, gehen Sie zur Parade?« ihren Unwillen, dorthin zu gehen, ihre Unlust bekunden. Da aber dieses Kopfschütteln gewöhnlich für ein erst zukünftiges Ereignis verwendet wird, wirkt es als Verneinung von etwas Gewesenem merkwürdig unbestimmt.Außerdem erweckt es eher die Vorstellung von persönlicher Abneigung gegen das Thema als von einer eigentlichen Ablehnung oder moralischen Unmöglichkeit der Sache. Als Swann sah, daß Odette ihm mit dieser Art von Zeichen zu verstehen gab, es stimme nicht, begriff er, daß es wahr sein könnte.
    »Ich habe es dir ja gesagt, du weißt es doch«, fügte sie mit gereizter, unglücklicher Miene hinzu.
    »Ja, ich weiß, aber bist du auch ganz sicher? Sag nicht: ›Du weißt es doch‹, sondern sag: ›Ich habe niemals solche Dinge mit irgendeiner Frau getan.‹«
    Wie eine Lektion wiederholte sie in ironischem Ton, als wolle sie ihn nur loswerden:
    »Ich habe niemals solche Dinge mit irgendeiner Frau getan.«
    »Kannst du es mir bei deinem Medaillon der Madonna di Laghetto schwören?«
    Swann wußte, daß Odette bei diesem Medaillon niemals falsch schwören würde.
    »Ach! Du bringst mich ja um«, rief sie aus und entzog sich, indem sie aufsprang, dem Drängen seiner Frage. »Bist du bald fertig damit? Was ist heute mit dir los? Du scheinst wohl fest entschlossen, es dahin zu bringen, daß ich dich

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