Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
einem Zwischenraum, in einer Variante des Typoskripts als 1. Kapitel – folgt eine erste Erzählsequenz. Schauplatz ist Combray; gezeigt wird das sogenannte Drama des Zubettgehens, eine Kindheitserfahrung des Erzählers (nennen wir ihn Marcel gemäß einer späteren Andeutung in der Recherche ), die für die Ausformung seiner Persönlichkeit und somit für die im Roman erzählte Geschichte grundlegende Bedeutung besitzt. Das Drama beginnt mit der Laterna-magica-Szene: anstatt den Knaben abzulenken und zu beruhigen, erwecken die buntschillernden Bildprojektionen der Zauberlampe mit der unheimlichen Geschichte der Genoveva von Brabant in ihm nur neue Ängste. Anschließend wird der weitere Familienkreis in Combray vorgestellt, an erster Stelle die Großmutter, ein der Mutter parallel gesetzter Fixpunkt in der Personenkonstellation, und man wird – nach dem Zimmer des kleinen Marcel – in neue Handlungsräume geführt: in den Garten, wo die Großmutter sich ihrer Liebe zur Natur hingibt; in den kleinen Salon, wo die Großtante die Großmutter mit ihren Neckereien quält; zuletzt in die kleine, nach Iriswurzel duftende Kammer unter dem Dach, wo Marcel sich seinen Schuldgefühlen gegenüber der Großmutter und – damit nicht unverbunden – seiner erwachenden Sexualität hingibt. Dann wird das Hauptthema dieser ersten Sequenz (»Gutenachtkuß«) angeschlagen und in den Szenen mit den Besuchen von Swann weiterentwickelt. Die Karikatur der beiden Großtanten, die sich mit ihren gesuchten Redewendungen gegenseitig überbieten, stellt die erste der auch später meist auf das Wort bezogenen Gesellschaftssatiren der Recherche dar. Außerdem bilden die Besuche Swanns den Anlaß, weitere Personenkreise und Handlungsorte vorzustellen. Einer dieser Besuche wird nicht als gewohnheitsmäßig sich wiederholendes Ereignis, sondern als einzelnes Faktum erzählt. Er bildet die Hauptszene im Drama des Zubettgehens. Folgendes spielt sich ab: eines Abends fordert Marcels Vater den Knaben plötzlich auf, ohne Gutenachtkuß hinaufzugehen und sich schlafen zu legen. In seiner Verzweiflung versuchtMarcel, durch Vermittlung von Françoise, der Köchin, seiner Mutter einen Brief zukommen zu lassen mit der dringenden Bitte, zu ihm heraufzukommen. Neben einer ersten Charakterisierung von Françoise, einer der Hauptpersonen des Romans, enthält die Szene auch erste Hinweise auf Erlebnisse Swanns, mit denen die Parallelsetzung der beiden Figuren Swann und Marcel vorbereitet wird. Da die Mission von Françoise ohne Erfolg bleibt, entschließt sich der Knabe, trotz aller mit diesem ungeheuerlichen Schritt verbundener Gefahren, seine Mutter auf der Treppe abzufangen und zu sich zu rufen. Der Vater tritt hinzu, und entgegen aller Voraussicht fordert er die Mutter auf, die Nacht im Zimmer Marcels zu verbringen, um diesen zu beruhigen. Die Schlußszene zeigt, wie die Mutter dem Kind aus George Sands François le Champi vorliest, einem Roman, in dem ein Findelkind am Ende der Geschichte seine Pflegemutter heiratet. In das Glück dieser Nacht mischt sich jedoch für Marcel das schuldhafte Gefühl, die moralischen Prinzipien seiner Mutter durchbrochen und ihr eine Niederlage bereitet zu haben.
Nach dieser ersten, um eine ganz bestimmte Erinnerung kreisenden Erzählsequenz wird der Leser in die Eingangssituation zurückversetzt. Man erfährt nun, wie sich die traumatische, auf eine einzelne Stunde und auf einen einzelnen Ort fixierte Erinnerung an Combray zu einer euphorischen, umfassenden Vergegenwärtigung der in diesem Städtchen verbrachten Zeit gewandelt hat. Dies wird in der Madeleine-Episode gezeigt, die das erste Kapitel von »Combray« beschließt. Nach einer Gegenüberstellung von »mémoire volontaire« und »mémoire involontaire« (willentliche und unwillkürliche Erinnerung, bewußtes und unbewußtes Sich-Erinnern) berichtet der Erzähler, wie er an einem kalten Winterabend entgegen seiner Gewohnheit eine Tasse Tee trinkt und darin ein Stück von einem Schmelztörtchen, einer Madeleine, aufweicht. Sobald nun das aufgeweichte Gebäck seinen Gaumen berührt, wird er von einem überwältigenden Glücksgefühl erfaßt. Erklären kann er dieses Gefühl zwar nicht, doch steigt in ihm, nachdem er in seinem Inneren lange den Grund seines ekstaseähnlichen Zustands gesucht hat, die Erinnerung an eine identische, einstin Combray wahrgenommene Geschmacksempfindung auf. Es ist die Erinnerung an die jeweils am Sonntagmorgen im Zimmer von Tante Léonie
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