Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
führt Proust seinen Leser noch einmal in die Eingangssituation, deren Bedeutung und Funktion als erzählerische Relaisstation immer deutlicher zutage tritt.
Der Übergang vom ersten zum zweiten Teil von Du côté de chez Swann wird durch einen Bruch bewerkstelligt. Ganz unvermittelt (abgesehen von den Anspielungen auf eine Liebesaffäre Swanns am Ende des ersten Teils) befinden wir uns in einer anderen Zeit (vor der Geburt Marcels), an einem anderen Ort (Paris) und in einem anderen Milieu (im Kreis der Verdurins). Der Erzähler allerdings bleibt derselbe, auch wenn er jetzt nicht mehr seine eigene Geschichte, sondern die eines anderen, nämlich Swanns erzählt. Auch tritt nun an die Stelle der gemäß dem Rhythmus des Spaziergangs sich frei den topographischen Gegebenheiten nach entwickelnden Erzählung ein Bericht, in dem die einzelnen Phasen von Swanns Liebe zu Odette vom Beginn bis zum Ende linear durcherzählt werden: erste Begegnung, Aufkeimen der Liebe dank der Ähnlichkeit Odettes mit einer Figur Botticellis, Fixierung der Liebe in dem Thema, der »petite phrase«, aus der Geigensonate Vinteuils und in der Redewendung »faire catleya« (Cattleya spielen), dann die Eifersucht Swanns, die Lügen Odettes, das Entschwinden der Liebe und ihr Wiederauftauchen in der Erinnerung, ausgelöst durch die »petite phrase«, der Swann anläßlich eines Hauskonzerts wiederbegegnet, schließlich die Loslösung von der Liebe in der Folge eines Traums, der Swann Odettes ursprüngliches, noch nicht durch die Liebe verfälschtes Bild vor Augen führt.
Gleichzeitig mit dem Bericht über Swanns Liebe zu Odette schreibt Proust eine oft hinreißend komische Satire des kunstbeflissenen Großbürgertums. Wie schon der Familienkreis in Combray, werden dabei die Verdurins und ihre Getreuen in erster Linie durch ihre sprachlichen Eigenheiten charakterisiert und karikiert.
Nach den Spaziergängen in »Combray« kommt in »Unamour de Swann« mit den Einladungen bei den Verdurins und der Soiree bei der Marquise von Saint-Euverte ein weiteres von Proust in der Recherche bevorzugtes Erzählinstrument, nämlich die gesellschaftliche Veranstaltung, zur Anwendung. Neben der in der Tradition des psychologischen Romans und vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Psychologie durchgeführten Analyse von Swanns Liebe zu Odette und der satirischen Schilderung des Salons der Verdurins sowie des Faubourg Saint-Germain bilden die Passagen über das kleine Thema, die »petite phrase«, aus der Geigensonate von Vinteuil einen Schwerpunkt dieses Romanteils. Indem das Thema den Romantext in der Art eines Wagnerschen Leitmotivs durchzieht, befähigt es uns und lädt dazu ein, Swanns Erinnerungserlebnis auf die Ebene des Lesens zu transponieren. Swann erinnert sich an Erlebtes, der Leser an Gelesenes.
Zu Beginn des dritten Teils, »Noms de pays: le nom«, greift Proust die Eingangssituation des Romans ein letztes Mal auf. Die ländlichen Zimmer von Combray, wie sie im zweiten Kapitel des ersten Teils beschrieben sind, werden jetzt dem Zimmer im Grand-Hôtel de la Plage in Balbec gegenübergestellt. Dieses leitet jedoch nicht etwa eine nun in Balbec spielende Erzählsequenz ein, es führt uns vielmehr – über den Gegensatz zwischen dem realen Balbec und dem von Marcel imaginierten – zu einem anderen Handlungsort, Paris, und einem anderen Alter des Romanhelden, jener Zeit nämlich, in der er von Reisen nach Florenz oder Venedig, in die Bretagne oder die Normandie träumt, zu Stätten, von denen er sich zuvor, vom Klang ihres Namens ausgehend, ein Phantasiebild geschaffen hat.
Die zentrale Episode dieses dritten Romanteils erzählt die Wiederbegegnung Marcels mit Gilberte Swann, die Liebe des Knaben zu dem Mädchen, die Spiele in den Parkanlagen der Champs-Élysées mit den sie begleitenden Hoffnungen und Enttäuschungen, endlich die grenzenlose Bewunderung Marcels für alles, was Gilberte umgibt: Swann, Odette, Bergotte.
Ein Spaziergang des Erzählers durch den Bois de Boulogne im November »dieses Jahres«, also 1913, und ein nostalgischerRückblick auf die Spaziergänge im Bois, als Madame Swann nicht im Automobil, sondern in ihrer Kutsche promenierte, beschließen ziemlich abrupt Du côté de chez Swann .
Die Bezüge der fiktiven Geschichte zum realen Zeitgeschehen sind offensichtlich, doch besteht, wie unsere Anmerkungen zeigen, keine genaue Übereinstimmung zwischen Roman und Wirklichkeit. »Un amour de Swann« spielt von 1879-1881, die
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