Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
gekostete, in Lindenblütentee getauchte Madeleine. Während die in einem Trauma wurzelnde Erinnerung an Combray auf eine einzelne Szene fixiert blieb, vermag nun die unwillkürliche, in sinnlicher Wahrnehmung begründete Erinnerung Combray als Ganzes wiederaufleben zu lassen. Indem sie neue Räume erschließt, wird so die Madeleine-Episode auch im eigentlichen Sinn zu einer Schlüsselstelle des Romans. Auf der kompositorischen Ebene bildet sie den Übergang zu einer zweiten Erzählsequenz, die Combray mit all seinen Bewohnern, seinen Straßen und Plätzen, seiner Kirche, seinen Gärten und Parks sowie seiner Umgebung umfaßt.
Nach einem Blick aus der Ferne auf den Kirchturm von Combray, der das ganze Städtchen in sich zusammenzufassen scheint, setzt die Erzählung im zweiten Kapitel von »Combray« wiederum in einem Zimmer ein. Wie in der Ouvertüre das Schlafzimmer desjenigen, der in der Nacht aufwacht und sich an frühere Zeiten erinnert, und wie Marcels Schlafzimmer in Combray zu Beginn des Dramas des Zubettgehens bilden die beiden Zimmer von Tante Léonie eine Art erzählerischer Keimzelle. In einem stilistischen Bravourstück zeigt Proust die in diesen Zimmern schwebenden Gerüche als das Ergebnis der in Combray waltenden moralischen und den Ort umgebenden geographischen Atmosphäre. Von den Zimmern wendet sich der Blick auf die Straßen und auf die dort sich zutragenden Ereignisse, die von Tante Léonie und Françoise kommentiert werden. Es folgt eine längere Passage über die Kirche von Combray, ein Bauwerk, an dem die früheste Geschichte Frankreichs abzulesen ist. Alsdann werden – immer im sonntäglichen Bereich zwischen Haus, Garten und Kirche – weitere Personen und Orte vorgestellt: der schöngeistige Legrandin, der sich später als Snob entpuppt; die bucklige Eulalie, deren Besuche von Tante Léonie mit Sehnsucht erwartet werden; das schwangere Küchenmädchen, das von Swann mit Giottos Caritas aus der Arena-Kapelle verglichen wird; der Pfarrer, der mit seinen Etymologien auf seine Weise zeitliche Tiefeerschließt; Bloch als intellektueller Fremdkörper in der provinziellen Welt Combrays; Vinteuil mit seiner Tochter usw. Eigentliche Zentren dieses Textteils sind die Betrachtungen über das Problem der Allegorie, über das Lesen und über den mit Swann befreundeten Schriftsteller Bergotte sowie die Beschreibung der Weißdornblüten auf dem Altar der Kirche. Durch einen zeitlichen Rückgriff deutlich ab- und hervorgehoben, bildet die Szene mit der Dame in Rosa einen weiteren thematischen Schwerpunkt. Als Übergang zu den beiden folgenden Textsequenzen steht eine Betrachtung über die beiden topographischen Räume, in die die Spaziergänge von Combray aus führen können: die Gegend von Méséglise (oder von Swann, an dessen Landsitz man auf dem Spaziergang in Richtung Méséglise vorbeikommt) und die Gegend von Guermantes.
Im Verlauf der Spaziergänge »du côté de chez Swann« beschreibt Proust Flieder-, Weißdorn- und Rotdornblüten, er erzählt Marcels erste Begegnung mit Gilberte Swann und analysiert das Erwachen erotischer Sehnsüchte in seinem Romanhelden. Am Ende der Erzählsequenz über die Gegend von Méséglise steht, hervorgehoben diesmal durch einen zeitlichen Vorgriff, die Szene in Montjouvain, in der Marcel die Tochter Vinteuils und ihre Freundin beobachtet, wie sie sich lesbischen Liebesspielen hingeben und dabei auf die Fotografie Vinteuils spucken, das heißt das Bild des Vaters schänden.
Die Spaziergänge »du côté de Guermantes« führen in eine von Wasserläufen durchzogene Gegend, in deren Tiefe sich das Schloß Guermantes verbirgt. Nach den ländlich-bürgerlichen Dornenhecken, die den Park Swanns umsäumen, blühen hier aristokratische Seerosen, und die Sehnsüchte des Knaben richten sich nicht auf Gilberte Swann oder auf Bauernmädchen aus Méséglise, sondern auf die Herzogin von Guermantes, die er in der Kirche von Combray zum erstenmal sieht. Um ihr zu gefallen, möchte Marcel ein großer Dichter werden, doch dazu müßte er seine Natureindrücke, die Ekstasen vor einem Naturschauspiel, in die er häufig verfällt, in Worte umsetzen, statt sie gleich wieder zu vergessen. Der Zusammenhang zwischen ekstatischer Naturbetrachtung und schöpferischer Tätigkeitwird in der Episode der Kirchtürme von Martinville, am Ende der um Guermantes kreisenden Handlungssequenz, in erzählerischer Form dargelegt.
Zum Abschluß des ersten und als Vorbereitung auf den zweiten Romanteil
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