Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
rechnete, sie je wieder zu erblicken – und so auch dachte er jetzt an den Abend bei Madame de Saint-Euverte zurück, wo er den General Froberville Madame de Cambremer vorgestellt hatte. Die Interessen unseres Lebens sind so vielfältig verflochten, daß nicht selten bei einer gleichen Gelegenheit die Richtpunkte eines noch nicht bestehenden Glücks bereits festgelegt sind, wenn wir an einem noch immer wachsenden Kummer leiden. Das hätte für Swann natürlich auch anderswo geschehen können als bei Madame de Saint-Euverte. Wer kann wissen, ob nicht an jenem Abend sogar, wäre er anderswo gewesen, andere Freuden sich angebahnt, andere Leiden ihn ereilt hätten, die ihm späterhin ebenso unvermeidlich vorgekommen wären? Was aber ihm wirklich so erschien, war das, was geschehen war, und er neigte beinahe dazu, etwas Schicksalhaftes darin zu sehen, daß er sich entschlossen hatte, die Soiree von Madame de Saint-Euverte zu besuchen, da nämlich sein Geist in dem Verlangen, den Erfindungsreichtum des Lebens zu bewundern, und unfähig, sich lange eine schwierige Frage vorzulegen oder festzustellen, was am wünschenswertesten gewesen sei, in den Leiden, die er an jenem Abend durchlebt hatte, und den noch ungeahnten Freuden, die darunter schon keimten – und die sich nur schwer gegeneinander abwägen ließen –, eine Art notwendiger Verkettung erkennen wollte.
Während er so eine Stunde nach seinem Erwachen dem Friseur die nötigen Anweisungen gab, damit seine »Bürste« im Wagen nicht zu Schaden kommen konnte, dachte er an seinen Traum zurück; er sah wieder, wie er sie vor kurzem noch ganz nahe bei sich gefühlt hatte, Odettes bleichen Teint, ihre zu mageren Wangen, die schlaffen Züge, die müden Augen vor sich, alles, was er – im Laufe seiner aufeinanderfolgenden Liebesgefühle, die aus seiner beständigen Liebe zu Odette einlanges Vergessen des ersten von ihr empfangenen Eindrucks gemacht hatten – nach den ersten Zeiten seiner Verbindung mit ihr nicht mehr bemerkt, dessen genauen Eindruck aber offenbar seine Erinnerung im Schlaf wiederherzustellen versucht hatte. Und mit jener Grobschlächtigkeit, die bei ihm auftauchen konnte, sobald er nicht mehr unglücklich war und sich gleichzeitig sein moralisches Niveau senkte, sagte er fast empört zu sich selbst: Wenn ich denke, daß ich mir Jahre meines Lebens verdorben habe, daß ich sterben wollte, daß meine größte Liebe einer Frau galt, die mir nicht gefiel, die nicht mein Genre war!
ANHANG
NACHWORT DES HERAUSGEBERS
Du côté de chez Swann ist am 14. November 1913 bei Bernard Grasset erschienen. Der erste Band von À la recherche du temps perdu gliedert sich in drei Teile: »Combray« (in zwei Kapiteln), »Un amour de Swann« und »Noms de pays: le nom«. Zwei weitere Bände wurden angekündigt: Le côté de Guermantes und Le temps retrouvé . Schon dieser erste Band umfaßte fünfhundert engbedruckte Seiten, eine für damalige Verleger und Leser ungewohnte, für den Geschmack des Autors jedoch immer noch zu wenig umfangreiche und zu wenig dichte Textmasse.
Die Recherche beginnt weder mit einer Szene, wie beispielsweise Flauberts Madame Bovary , noch mit der Beschreibung einer Szenerie, wie etwa Stendhals Le rouge et le noir oder Balzacs Le père Goriot , sondern mit einer Situation. Ein Ich-Erzähler berichtet von der Zeit, während der er sich früh schlafen legte und in der Nacht manchmal aufwachte, sei es, um nach einigen flüchtigen, kaum ins Bewußtsein gedrungenen Wahrnehmungen gleich wieder in den Schlaf zurückzusinken, sei es, um einem Traum nachzusinnen oder – ausgehend von der beim Erwachen auftauchenden Vorstellung anderer, früher von ihm bewohnter Zimmer – sich an seine Vergangenheit zu erinnern. In den Betrachtungen über die Vorgänge im menschlichen Bewußtsein, über das innere Leben (Schlaf, Traum und Erinnerung) liegt eine auf die Themen, in der Aufzählung erinnerter Lebensstätten (Combray, Balbec, Paris, Doncières, Venedig) eine auf die Handlungsorte des Romans bezogene Exposition. Die als Ouvertüre oder Vorspiel gesetzte Schilderung eines in der Nacht erwachenden, vor sich hinträumenden und sein früheres Leben in Erinnerung rufenden Menschen kann auch als Sinnbild (als Mise en abyme einer Prämisse des Romans) gelesen werden: Sie bedeutet, daß die Erinnerung (oder das innere Leben überhaupt) die Voraussetzung ist zumErzählen, zum Schreiben, zum Erschaffen von Kunstwerken.
Nach einem Abschnitt – in der Erstausgabe nach
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