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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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sie ihre Großherzigkeit, ihr Talent, einen immer bereitgehaltenen Traum von Seelenschönheit – denn wie die Künstler verwirklichen sie ihn nicht, zwängen sie ihn nicht in den Rahmen des gewöhnlichen Lebens hinein – und ein Gold, das sie wenig kostet, darauf verwenden, dem rauhen, immer etwas plump gebliebenen Leben derMänner durch eine kostbare, zarte Fassung größeren Wert zu verleihen. So wie diese hier in ein Rauchzimmer, in dem mein Onkel sie in seiner Hausjoppe empfing, ihren anmutigen Körper, ihr Kleid aus rosa Seide, ihre Perlen, den Nimbus von Eleganz, mit dem sie die Freundschaft eines Großfürsten umwebte, hineintrug, so hatte sie auch eine belanglose Bemerkung meines Vaters mit zarten Gefühlen durchsetzt, ihr eine elegante Form und Bedeutung gegeben, und nachdem sie einen ihrer Blicke schönsten Wassers, in dem sich Demut und Dankbarkeit spiegelten, wie ein Juwel in sie eingefügt hatte, reichte sie sie ihm als einen künstlerisch ausgestatteten Wertgegenstand zurück, als etwas, was nun wirklich »ganz und gar köstlich« geworden war.
    »Hör mal, ich glaube, es ist Zeit, daß du gehst«, sagte mein Onkel zu mir.
    Ich stand auf und verspürte in mir eine unwiderstehliche Lust, der Dame in Rosa die Hand zu küssen, doch schien mir dies etwa so kühn wie eine Entführung. Mein Herz klopfte heftig, während ich mir sagte: Soll ich, soll ich nicht? Dann fragte ich mich nicht länger, was ich tun sollte, um statt dessen lieber wirklich etwas zu tun. Und in einem blinden, unüberlegten Impuls, der nichts mehr mit den Gründen zu tun hatte, die ich eben noch zu seinen Gunsten hätte vorbringen können, führte ich die Hand, die sie mir reichte, an die Lippen.
    »Wie nett er ist! Schon so galant, er hat einen Blick für Frauen, das hat er von seinem Onkel. Er wird einmal ein vollkommener Gentleman«, fügte sie hinzu und preßte dabei die Zähne zusammen, um den Satz einen leicht britischen Akzent zu geben. »Könnte er nicht einmal kommen und ›a cup of tea‹ bei mir trinken, wie unsere Nachbarn, die Engländer, sagen? 1 Er brauchte mir nur am Vormittag einen ›bleu‹ 2 zu schicken.«
    Ich wußte nicht, was ein »bleu« war. Überhauptverstand ich nur die Hälfte der Worte, die diese Dame von sich gab, aber die Furcht, es könnte sich etwas darin verbergen, was ich ohne Unhöflichkeit nicht übergehen durfte, hinderte mich daran, nicht mehr hinzuhören; das Ganze war sehr anstrengend für mich.
    »Nicht doch, das ist unmöglich«, versetzte mein Onkel mit einem Achselzucken, »er hat keine Zeit, er arbeitet viel. Er hat in seiner Klasse alle Preise bekommen«, setzte er mit leiser Stimme hinzu, damit ich diese Lüge nicht hören und etwa Einspruch erheben könnte. »Wer weiß? Er ist vielleicht ein künftiger kleiner Victor Hugo, eine Art Vaulabelle 1 , Sie wissen schon.«
    »Ich schwärme für Künstler«, antwortete die Dame in Rosa, »nur sie verstehen die Frauen … Nur sie und solche Ausnahmegeschöpfe wie Sie, mein Freund. Verzeihen Sie meine Unwissenheit. Wer ist Vaulabelle? Sind das die Bände mit den Goldrücken in der kleinen Büchervitrine in Ihrem Boudoir? Sie wissen doch, Sie haben sie mir zu leihen versprochen, ich gebe auch bestimmt gut darauf acht.«
    Mein Onkel hatte eine leidenschaftliche Abneigung gegen das Verleihen von Büchern, er gab also keine Antwort und führte mich ins Vorzimmer hinaus. Von schwärmerischer Liebe zu der Dame in Rosa erfaßt, bedeckte ich die voll Tabak hängenden Backen meines alten Onkels mit wilden Küssen, und während er mir recht verlegen zu verstehen gab, was er nicht offen zu sagen wagte, nämlich daß es ihm lieber wäre, wenn ich meinen Eltern nichts von diesem Besuch erzählen würde, sagte ich ihm mit Tränen in den Augen, das Gefühl der Dankbarkeit für seine Güte sei so stark in mir, daß ich bestimmt eines Tages ein Mittel finden werde, sie ihm zu beweisen. Es war in der Tat so stark, daß ich zwei Stunden darauf nach ein paar verworrenen Sätzen, die, wie mir schien, meinen Eltern keinen ausreichendenEindruck von der neuen Wichtigkeit meiner Person vermitteln konnten, es einfacher fand, ihnen in allen Einzelheiten über meinen Besuch zu berichten. Ich glaubte damit meinem Onkel nicht irgendwelche Ungelegenheiten zu bereiten. Wie hätte ich das glauben können, da ich es doch nicht wünschte. Ich konnte ja nicht auf den Gedanken kommen, daß meine Eltern in einem Besuch etwas Ungehöriges finden würden, in dem ich selber nichts

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