Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
flachen Strohhut; was jene mir aber in die Erinnerung riefen, waren nicht die besonnten Stunden ferner Jahre, da ich sie so oft in den Ackerfurchen von Combray oder auf der Böschung bei der Hecke von Tansonville gepflückt hatte, sondern der Geruch und der Staub der Dämmerstunde, wie sie in dem Augenblick, da Madame de Guermantes siedurchquert hatte, über der Rue de la Paix lagen. Mit lächelnder, nichtachtender, zerstreuter Miene, die aneinander gepreßten Lippen zu einem Schmollmündchen geschürzt, zeichnete sie mit der Spitze ihres Sonnenschirms, wie mit dem längsten Fühler ihres geheimnisumwobenen Lebens, Kreise auf den Teppich, dann ruhte ihr Blick mit der gleichgültigen Aufmerksamkeit, die sogleich jeden Berührungspunkt zwischen einem selbst und dem aufhebt, was man ins Auge faßt, abwechselnd auf jedem einzelnen von uns und inspizierte dann die Kanapees und die Sessel, wobei dieser Blick etwas weicher wurde dank jener menschlichen Sympathie, die durch die wenn auch bedeutungslose Anwesenheit von Dingen erweckt wird, die man kennt, Dinge, die beinahe Personen sind; diese Möbel waren nicht wie wir, sie gehörten auf unbestimmte Weise zu ihrer eigenen Welt, sie waren mit dem Leben ihrer Tante verknüpft; dann kehrte dieser Blick von dem Beauvais-Möbel wieder zu der Person zurück, die darauf saß, und füllte sich erneut mit Scharfsichtigkeit und Mißbilligung, die zu äußern Madame de Guermantes aus Respekt vor ihrer Tante sich nicht erlaubt, die sie aber schließlich auch empfunden hätte, wäre statt unserer auf diesen Sesseln ein Fettfleck oder eine Staubschicht zu konstatieren gewesen.
Der bedeutende Schriftsteller G. trat ein; er kam, um Madame de Villeparisis einen Besuch abzustatten, den er als eine Fron empfand. Die Herzogin war zwar entzückt, ihn zu sehen, machte ihm aber kein Zeichen, jedoch ganz von selbst fand er sich bei ihr ein, da ihr Charme, ihr Takt, ihre unkomplizierte Art sie in seinen Augen als geistvoll erscheinen ließen. Außerdem gebot die Höflichkeit, daß er sie begrüßte, denn da er berühmt und im Umgang angenehm war, lud ihn Madame de Guermantes häufig zum Essen ein, manchmal ganz intim nur mit ihr und ihrem Gatten, oder machte sich imHerbst in Guermantes die gute Bekanntschaft mit ihm zunutze, um ihn zuweilen abends mit irgendwelchen Hoheiten zu sich zu bitten, die neugierig darauf waren, ihn kennenzulernen. Denn die Herzogin sah gern gewisse Männer der geistigen Elite bei sich, vorausgesetzt freilich, daß sie Junggesellen waren, eine Bedingung, die sie, selbst wenn sie verheiratet waren, ihr gegenüber stets erfüllten, denn da ihre immer mehr oder weniger gewöhnlichen Frauen in einem Salon, in dem nur die elegantesten Schönheiten von Paris auftraten, störend gewirkt hätten, wurden die Herren immer ohne sie gebeten, der Herzog aber, um jeder Empfindlichkeit im voraus zu begegnen, erklärte diesen unfreiwilligen Witwern, daß die Herzogin Frauen nicht bei sich empfange, die Gesellschaft von Frauen nicht ertrage, fast als handle es sich um eine ärztliche Vorschrift oder als erkläre er, sie könne nicht in einem Zimmer sein, in dem es nach etwas Bestimmtem rieche, nichts stark Gesalzenes essen, in der Bahn nicht rückwärts zur Fahrtrichtung sitzen oder unmöglich ein Korsett tragen. Allerdings trafen diese großen Männer bei den Guermantes die Prinzessin von Parma, die Prinzessin von Sagan (die Françoise, da sie ständig von ihr reden hörte, schließlich im Glauben, die Grammatik erfordere dieses Femininum, als »die Sagante« bezeichnete) und noch viele andere an, deren Anwesenheit aber damit begründet wurde, daß sie zur Familie gehörten oder Jugendfreundinnen seien, die man schwer übergehen könne. Überzeugt oder nicht durch die Erklärungen des Herzogs von Guermantes betreffs der merkwürdigen Krankheit der Herzogin, nicht mit Frauen verkehren zu können, gaben die Eingeladenen sie an ihre Gattinnen weiter. Einige dieser letzteren waren der Meinung, die Krankheit sei nur ein Vorwand der Eifersucht, weil die Herzogin allein über einen Hofstaat von Anbetern verfügen wolle. Noch Naivere glaubten, dieHerzogin habe vielleicht einen merkwürdigen Lebensstil, ja vielleicht sogar eine anrüchige Vergangenheit, um derentwillen andere Frauen nicht bei ihr verkehren wollten, und nun mache sie aus der Not eine Art von eigenwilliger Laune. Die Besten jedoch kamen, wenn sie ihre Männer Wunderdinge über die geistreichen Äußerungen der Herzogin berichten
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