Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
dafür aber weniger oberflächlich als das, in dem sie nunmehr lebte, und dabei hochkultiviert gewesen war. Infolgedessen ruhte ihre gegenwärtige Frivolität auf einem solideren Untergrund, einer Art von unsichtbarem geistigem Nährboden, aus dem selbst die Herzogin (sehr selten freilich, denn sie haßte alle Pedanterie) dieses oder jenes Zitat von Victor Hugo oder Lamartine hervorholte, eines, das, immer am richtigen Platz und mit einem von Gefühl beseelten Blick ihrer schönen Augen angebracht, unweigerlich überraschte und entzückte. Manchmal gab sie sogar völlig unprätentiös, doch mit schlichter Treffsicherheit einem der Académie angehörigen dramatischen Autor einen scharfsinnigen Rat, durch den sie ihn veranlaßte, eine Situation in seinem Stück weniger kraß zu gestalten oder eine andere Schlußwendung herbeizuführen.
Wenn ich im Salon Madame de Villeparisis’ wie inder Kirche von Combray, bei der Heirat von Mademoiselle Percepied, Mühe gehabt hatte, in dem schönen, allzu menschlichen Gesicht Madame de Guermantes’ das Unbekannte ihres Namens wiederzufinden, glaubte ich wenigstens, wenn sie spräche, würde ihre Unterhaltung – abgründig, geheimnisvoll – die Fremdartigkeit eines mittelalterlichen Wandteppichs, eines gotischen Kirchenfensters aufweisen. Damit aber die Worte einer Frau, die Madame de Guermantes hieß, auch wenn ich sie nicht geliebt hätte, mich nicht enttäuschten, hätten sie nicht nur geistreich, schön und tief sein, sondern auch den amarantfarbenen Widerschein der letzten Silbe ihres Namen tragen müssen, die Färbung, die ich zu meiner Verwunderung schon am ersten Tage nicht in ihrer Person gefunden und schließlich in ihr Denken hinüber verlagert hatte. Gewiß hatte ich bereits Madame de Villeparisis, Saint-Loup, Menschen also, deren Geist nichts Außergewöhnliches darstellte, ganz nebenbei den Namen Guermantes aussprechen hören, einfach als den einer Person, die auf Besuch kommen oder mit der man dinieren sollte, und gar nicht, als ob sie in diesem Namen ein paar Morgen herbstlich goldener Wälder und eine ganze geheimnisvolle Provinzregion erkennen würden. Doch das war wohl von ihrer Seite eine gewisse Verstellung, so wie die klassischen Dichter uns nicht auf die tiefsinnigen Absichten aufmerksam machen, die sie gleichwohl gehabt haben, eine Haltung, die ich nachzuahmen bemüht war, wenn ich in ganz natürlichem Ton sagte: die Herzogin von Guermantes, als sei es ein Name, der anderen geglichen hätte. Im übrigen versicherte jedermann, sie sei eine sehr intelligente Frau, besitze die Gabe geistreicher Konversation und lebe in einer der interessantesten kleinen Coterien – Worte, die zu Komplizen meiner Träume wurden. Denn wenn sie von geistreicher Coterie, von intelligenter Unterhaltung sprachen, so stellte ich mirdarunter keineswegs eine Intelligenz vor, wie ich sie schon kannte, wäre es selbst die der größten Geister; nicht aus Menschen wie Bergotte setzte ich diese Coterie zusammen. Nein, unter Intelligenz verstand ich eine unaussprechliche, goldene, von Waldesfrische durchströmte Gabe. Auch wenn sie noch so intelligente Gedanken geäußert hätte (intelligent in dem Sinn, wie ich das Wort verstand, wenn es sich um einen Philosophen oder einen Kritiker handelte), hätte Madame de Guermantes vielleicht mehr noch meine Erwartung einer so ungewöhnlichen Gabe enttäuscht, als wenn sie sich in einem belanglosen Gespräch damit begnügt hätte, von Kochrezepten und dem Mobiliar von Schlössern zu sprechen oder die Namen von ihren Nachbarinnen und Verwandten aufzuzählen, die mir immerhin ihr Leben näher vor Augen gerückt hätten.
»Ich wähnte hier Basin anzutreffen, er wollte Sie besuchen kommen«, sagte Madame de Guermantes zu ihrer Tante.
»Ich habe deinen Mann schon mehrere Tage nicht gesehen«, antwortete Madame de Villeparisis in empfindlichem und gekränktem Ton. »Ich habe ihn gar nicht oder höchstens einmal wiedergesehen seit diesem reizenden Streich, den er mir gespielt hat, als er sich als Königin von Schweden bei mir anmelden ließ.«
Um zu lächeln, biß sich Madame de Guermantes leicht auf die Lippen, wie wenn sie mit dem Mund ihr Gesichtsschleierchen gefaßt hätte.
»Wir haben gestern mit ihr bei Blanche Leroi diniert, Sie würden sie nicht wiedererkennen, sie ist ungeheuer dick geworden, ich bin sicher, sie ist krank.«
»Ich habe gerade diesen Herren erklärt, daß du findest, sie sieht aus wie ein Frosch.«
Madame de Guermantes gab
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