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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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trachten, was wir empfinden, haben wir noch nie daran gedacht, wie wir es äußern würden. Und plötzlich läßt sich in uns ein unbekanntes, wüstes Tier vernehmen, dessen Stimmklang unter Umständen denjenigen, der dieses unwillkürliche, elliptische und fast unwiderstehlich hervorbrechende Geständnis unseres Charakterfehlers oder Lasters entgegennimmt, ebenso erschreckt wie das unvermittelt, indirekt und auf bizarre Weise erfolgte Bekenntnis eines Verbrechers, der sich gedrängt fühlt, einen Mord zu gestehen, für den man ihn nicht schuldig hielt. Natürlich wußte ich wohl, daß der eventuell sogar subjektiv vorhandene Idealismus großer Philosophen diese nicht hindert, weiterhin den Freuden der Tafel zuzusprechen oder sich mit großer Zähigkeit um einen Sitz in der Académie zu bewerben. Aber Legrandin brauchte wirklich nicht so oft daran zu erinnern, daß er eigentlich einen anderen Planeten bewohne, wenn alle seine konvulsivischen Regungen des Zorns oder der Liebenswürdigkeit von dem leidenschaftlichen Wunschbeherrscht wurden, eine gute Position auf diesem hier zu erringen.
    »Natürlich, wenn ich förmlich verfolgt und zwanzigmal darum gebeten werde, irgendwo zu erscheinen«, fuhr er mit leiser Stimme fort, »kann ich mich ja bei allem Recht auf persönliche Freiheit nicht wie ein Flegel betragen.«
    Madame de Guermantes hatte sich gesetzt. Da ihr Name mit ihrem Titel verbunden war, fügte er ihrer realen Person das Herzogtum hinzu, das sich um sie herum abzeichnete, und ließ inmitten des Salons im Umkreis des Puffsessels, wo sie sich befand, die schattige, goldene Kühle der Wälder von Guermantes herrschen. Mich wunderte nur, diese Ähnlichkeit nicht deutlicher auf dem Gesicht der Herzogin zu lesen, das nichts Pflanzliches an sich hatte und in dem höchstens die geplatzten Äderchen der Wangen – die, so schien es mir, der Name Guermantes mit seinem Wappen hätte schmücken müssen – als eine Folge, nicht aber als Bild von langen Ausritten im Freien gelten konnten. Später, als sie mir bereits gleichgültig geworden war, kannte ich viele spezielle Züge der Herzogin, besonders (um im Augenblick bei dem zu verweilen, dessen Reiz ich damals schon spürte, ohne ihn deutlich erkennen zu können) ihre Augen, in die wie in ein Bild der blaue Himmel eines französischen Nachmittags eingefangen war, weithin sichtbar und überflutet von Licht, auch wenn es im Augenblick nicht strahlt; eine Stimme ferner, die man bei den ersten heiseren Lauten fast dem Pöbel zugerechnet hätte und in der, wie auf den Stufen der Kirche von Combray oder auf der Konditorei am Marktplatz, das träge ölige Gold ländlichen Sonnenscheins lag. An diesem ersten Tag aber bemerkte ich nichts, denn in der Atmosphäre meiner leidenschaftlich gespannten Aufmerksamkeit verflüchtigte sich auf der Stelle das wenige, was ich hätte aufnehmen und worin ich etwas von dem Namen Guermantes hättewiederfinden können. Jedenfalls sagte ich mir, daß eben doch sie es tatsächlich sei, die für alle Welt der Name Herzogin von Guermantes bezeichnete; das unfaßbare Leben, das dieser Name bedeutete, enthielt tatsächlich dieser Leib; er hatte es mitten unter andersartige Wesen hereingetragen, in diesen Salon, der es von allen Seiten her umgab und auf den es einen so starken Einfluß ausübte, daß ich da, wo dieses Leben sich nicht mehr weiter ausbreitete, eine Linie züngelnder Erregtheit die Grenzen markieren zu sehen meinte: an der Peripherie der Glocke, die auf dem Teppich ihr Rock aus blauer Chinaseide bildete, und in den hellen Pupillen der Herzogin, am Schnittpunkt der sie beschäftigenden Gedanken, der Erinnerungen, der unbegreiflichen, verächtlichen, amüsierten und merkwürdigen Überlegungen, die ihren Blick füllten, und der von außen kommenden Bilder, die sich darin widerspiegelten. Vielleicht hätte es mich etwas weniger bewegt, wenn ich sie an einer Soiree bei Madame de Villeparisis angetroffen hätte, anstatt sie hier an einem der »Jours« der Marquise zu sehen, bei einem jener Tees, die für die Frauen nur eine kurze Rast im Ablauf ihres Ausgangs bilden und wo sie, mit dem gleichen Hut auf dem Kopf, den sie bei ihren Besorgungen schon getragen haben, in die Flucht aufeinanderfolgender Salons die Außenluft hineintragen und einen besseren Blick auf das spätnachmittägliche Paris gestatten als die hohen geöffneten Fenster, durch die das Rollen der Mylords dringt: Madame de Guermantes trug einen mit Kornblumen geschmückten

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