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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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hörten, zu der Überzeugung, diese sei allen anderen Frauen derart überlegen, daß sie sich in ihrer Gesellschaft langweile, da diese ja über nichts Vernünftiges zu reden imstande seien. Tatsächlich langweilte die Herzogin sich in der Gesellschaft von Frauen, wofern deren fürstlicher Rang ihnen nicht ein besonderes Interesse sicherte. Doch täuschten sich die kaltgestellten Ehefrauen, wenn sie meinten, die Herzogin wolle nur Männer bei sich sehen, um von Literatur, von Naturwissenschaft und Philosophie zu sprechen. In Wahrheit redete sie nicht davon, niemals jedenfalls mit wirklich bedeutenden Leuten. Wenn aufgrund einer Familientradition gleich der, durch die die Töchter hervorragender Militärs auch noch inmitten ihrer eitelsten Beschäftigungen ihre Achtung vor allem bewahren, was die Armee betrifft, sie selbst als Enkelin von Frauen, die mit Thiers, Mérimée und Augier befreundet waren, die Meinung hegte, man müsse in seinem Salon vor allem geistvollen Männern einen Platz einräumen, hatte sie andererseits auch von der gleichzeitig herablassenden und zwanglosen Art, mit der diese berühmten Männer in Guermantes empfangen worden waren, den Zug übernommen, Leute von Talent wie Familienbekannte anzusehen, durch deren Begabung man sich nicht blenden läßt und zu denen man nicht von ihren Werken spricht, was sie ja im übrigen nicht interessieren würde. Ferner neigte sie dank der Art von Geist, die ein Mérimée, ein Meilhac und ein Halévy 1 entfaltet hatten und die auch die ihrige war, im Gegensatz zum verbalen Gefühlsüberschwangeiner vorausgegangenen Epoche zu einer Art der Konversation, die alle großen Worte und Bekundungen erhabener Gefühle ablehnt und die bewirkte, daß sie etwas wie Eleganz darin entwickelte, in Anwesenheit eines Dichters oder Musikers nur von den Gerichten zu sprechen, die aufgetragen wurden, oder von dem Kartenspiel, das gleich folgen sollte. Diese Enthaltung hatte für einen nicht eingeweihten Dritten etwas Verwirrendes, das bis zum schlicht Geheimnisvollen ging. Wenn Madame de Guermantes ihn fragte, ob er gern mit diesem oder jenem berühmten Dichter zusammen eingeladen sein würde, so erschien er von Neugier verzehrt pünktlich auf die Minute. Die Herzogin sprach mit dem Dichter über das Wetter. Dann wurde zu Tisch gegangen. »Mögen Sie Eier gern auf diese Art?« fragte sie den Dichter. Angesichts der Billigung, auf die das Gericht bei ihm stieß – wie auch bei ihr, denn sie fand alles exquisit, was es bei ihr gab, sogar den abscheulichen Apfelwein, den sie aus Guermantes kommen ließ –, bedeutete sie dem Diener: »Noch einmal Eier für Monsieur«, während jener Dritte ängstlich aufpaßte, daß ihm nur nicht entginge, was die beiden bestimmt sich zu sagen beabsichtigt hatten, da ja der Dichter und die Herzogin es trotz unerhörter Schwierigkeiten möglich gemacht hatten, sich vor der Abreise des ersteren noch einmal zu sehen. Doch die Mahlzeit nahm ihren Fortgang, die Speisen wurden nacheinander abgetragen, nicht ohne Madame de Guermantes Gelegenheit zu geistreichen Scherzen oder amüsanten Geschichtchen zu geben. Der Dichter aß indessen weiter, ohne daß Herzog und Herzogin daran gedacht zu haben schienen, daß er ein Dichter sei. Bald ging das Dejeuner zu Ende, man verabschiedete sich, und nicht ein Wort war über die Dichtkunst gefallen, die sie alle doch liebten, von der aber infolge einer Zurückhaltung ganz im Geiste derjenigen, von der mir Swann einenVorgeschmack gegeben hatte, keiner der Anwesenden sprach. Diese Zurückhaltung gehörte ganz einfach zum guten Ton. Für den Dritten aber hatte sie, wenn er einen Augenblick darüber nachdachte, etwas sehr Melancholisches, und die Mahlzeiten im Milieu der Guermantes erinnerten dann an die Stunden, die schüchterne Liebende oft zusammen verbringen, ohne sich bis zu dem Augenblick, da sie sich trennen müssen, etwas anderes als Banalitäten zu sagen und – sei es aus Befangenheit, aus Scham oder Ungeschick – ohne daß das große Geheimnis, das sie so brennend gern einander mitgeteilt hätten, aus dem Herzen über die Lippen gelangt. Im übrigen muß man aber hinzufügen, daß dieses Sichausschweigen über tiefgründige Dinge, deren Erörterung man unaufhörlich vergebens erwartet, zwar für die Herzogin charakteristisch, aber doch keine unumstößliche Regel bei ihr war. Madame de Guermantes hatte ihre Jugend in einem etwas anderen Milieu verbracht, das zwar ebenso aristokratisch, jedoch weniger glänzend,

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