Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
verharren, wie es die gute Erziehung verlangt. Eine gute Erziehung übrigens, die man nicht allzuwörtlich auffassen darf, da mehrere dieser Damen sehr schnell in sittliche Schamlosigkeit verfallen, ohne jemals der fast kindlichen Korrektheit ihrer Manieren verlustig zu gehen. Madame de Marsantes fiel im Gespräch etwas auf die Nerven, weil sie jedesmal, wenn es sich um einen Bürgerlichen handelte, zum Beispiel um Bergotte oder Elstir, sagte, wobei sie das Wort hervorhob, es heraushob, es in zwei verschiedenen Tonarten mit einer Modulation psalmodierte, die der Familie Guermantes eigentümlich war: »Ich hatte die Ehre , die große Eh -re, Monsieur Bergotte zu begegnen, die Bekanntschaft von Monsieur Elstir zu machen«, sei es, um ihre Demut bestaunen zu lassen, sei es aus der gleichen Neigung heraus, aus der Monsieur de Guermantes auf ungebräuchliche Wendungen zurückgriff, um gegen die derzeitigen unerzogenen Umgangsformen zu protestieren, aufgrund deren die Leute sich nicht hinlänglich als »geehrt« bezeichneten. Welcher von diesen beiden Gründen nun der richtige war, auf jeden Fall merkte man, daß Madame de Marsantes, wenn sie sagte: »Ich hatte die Ehre , die große Eh -re«, einer großen Rolle gerecht zu werden und zu zeigen glaubte, daß sie die Namen verdienter Männer ebenso zu behandeln wisse, wie sie ihre Träger selbst in ihrem Schlosse empfangen hätte, wären sie irgendwo in der Nachbarschaft gewesen. Da andererseits ihre Familie groß und ihr sehr teuer war und sie, umständlich in der Äußerung und zu langen Erklärungen neigend, verwandtschaftliche Beziehungen doch erklären wollte, ergab es sich (ohne irgendein Bedürfnis von ihrer Seite, Staunen zu erregen, und obwohl sie richtig gerne nur von rührenden Bauern und edlen Jagdhütern sprach), daß sie bei jeder Gelegenheit sämtliche mediatisierten Häuser Europas namentlich anführte, was ihr Personen aus weniger glanzvollen Familien nicht verziehen und, falls sie etwas intellektuell veranlagt waren, als Stumpfsinn verhöhnten.
Auf dem Land wurde Madame de Marsantes wegen ihrer Mildtätigkeit verehrt, vor allem aber, weil die Reinheit eines Blutes, in dem seit mehreren Generationen nur vorhanden war, was es an Größtem in der Geschichte Frankreichs gab, ihrer Art, mit Menschen umzugehen, alles entzogen hatte, was Leute aus dem Volk als »Getue« bezeichnen, und ihr vollkommene Schlichtheit verlieh. Sie scheute sich nicht, eine arme Frau zu küssen, die unglücklich war, und ihr zu sagen, sie solle sich im Schloß einen Wagen Holz abholen. Sie war, so sagte man, eine vollkommene Christin. Ihr lag viel daran, Robert kolossal reich zu verheiraten. Eine große Dame sein heißt die Rolle einer großen Dame spielen, und das heißt zu einem Teil Schlichtheit spielen. Es ist dies ein Spiel, das sehr teuer wird, um so mehr als Schlichtheit nur unter der Bedingung bewundert wird, daß die anderen wissen, man könnte auch anders als schlicht sein, man sei nämlich überaus reich. Später, als ich erzählte, daß ich sie gesehen hatte, wurde mir gesagt: »Sie haben sicher gemerkt, daß sie einst hinreißend war.« Wahre Schönheit aber ist so eigenartig und so neu, daß man sie nicht als Schönheit erkennt. Ich stellte an jenem Tag nur fest, sie habe eine sehr kleine Nase, intensiv blaue Augen, einen langen Hals und ein trauriges Gesicht.
»Höre«, sagte Madame de Villeparisis zu der Herzogin von Guermantes, »ich glaube, ich werde gleich den Besuch einer Frau bekommen, die du nicht kennenlernen willst, ich sage es dir lieber vorher, damit es dich nicht derangiert. Du kannst im übrigen ganz beruhigt sein, ich werde sie später nie wieder bei mir haben, sie soll heute nur ein einziges Mal hier erscheinen. Es handelt sich um die Frau von Swann.«
Als Madame Swann sah, welche Proportionen die Dreyfus-Affäre annahm, und fürchten mußte, daß die Herkunft ihres Mannes sich gegen sie wenden könnte,hatte sie ihn angefleht, niemals mehr von der Unschuld des Verurteilten zu sprechen. Wenn er nicht anwesend war, ging sie noch weiter und bekannte sich zu glühendem Nationalismus, worin sie übrigens nur dem Beispiel von Madame Verdurin folgte, bei der ein latenter bürgerlicher Antisemitismus zum Ausbruch gelangt war und sich ins schlichtweg Maßlose gesteigert hatte. Madame Swann hatte dank dieser Haltung Aufnahme in einige Frauenligen der antisemitischen Gesellschaft gefunden, die sich damals zu bilden begannen, und Beziehungen zu mehreren Personen der
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