Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
hörte nichts als die Worte: »Ja, woher wissen Sie denn …? Wer hat Ihnen gesagt?«, als ob er der Sohn eines Sträflings sei. Andererseits bewies in Anbetracht seines Namens, der nicht gerade für christlich gilt, und seines Gesichts sein Erstaunen eine gewisse Naivität.
Da die Äußerungen von Norpois ihn nicht völlig befriedigt hatten, trat er zu dem Archivar und fragte ihn, ob man bei Madame de Villeparisis nicht manchmal du Paty de Clam oder Joseph Reinach begegne. Der Archivar antwortete nicht; er war Nationalist und predigte unaufhörlich der Marquise, es werde bald einen Krieg zwischen den Lagern geben und sie solle vorsichtiger in der Wahl ihrer Bekannten sein. Er fragte sich, ob Bloch nicht ein geheimer Abgesandter des Syndicat sei, gekommen, um diesem Nachrichten zu verschaffen, und beeilte sich, Madame de Villeparisis von den Fragen in Kenntnis zu setzen, die Bloch ihm soeben gestellt hatte. Sie war der Meinung, daß er zumindest unerzogen, möglicherweise sogar gefährlich für die Stellung von Norpois sei. Schließlich wollte sie dem Archivar Genugtuung geben, dem einzigen Menschen, den sie etwas fürchtete und der sie, wenn auch ohne großen Erfolg, indoktrinierte ( jeden Morgen las er ihr den Artikel von Judet im Petit Journal 2 vor). Sie wollte also Bloch bedeuten, er brauche nicht wiederzukommen, und fand ohne Mühe in ihrem mondänen Repertoire die Szene, mittels deren eine große Dame jemandem die Tür weist, eine Szene, in derkeineswegs der streng verweisende Finger und die blitzeschleudernden Blicke vorkommen, die man sich dabei vorzustellen pflegt. Als Bloch zu ihr trat, um auf Wiedersehen zu sagen, schien sie in den Tiefen ihres großen Lehnstuhls nur halb einer unbestimmten Schläfrigkeit entrissen. Ihre versunkenen Blicke hatten nur mehr den schwachen, reizvollen Schimmer einer Perle. Die Worte, mit denen Bloch sich empfahl, vermochten im Antlitz der Marquise kaum ein schwebendes Lächeln zu entfachen, entlockten ihr jedoch kein Wort; sie reichte ihm auch nicht die Hand. Diese Szene setzte Blochs Verwunderung die Krone auf, da aber ein Kreis von Personen Zeuge davon war, war er der Meinung, sie könne, ohne ihm Unannehmlichkeiten zu bereiten, nicht noch länger andauern, und um auf die Marquise Druck auszuüben, streckte er ihr die Hand, die sie nicht ergriffen hatte, selbst ostentativ entgegen. Madame de Villeparisis war schockiert. Doch sicherlich wollte sie zwar dem Archivar sowie dem ganzen dreyfusfeindlichen Clan eine sofortige Genugtuung bereiten, gleichzeitig aber auch für die Zukunft sich alle Möglichkeiten offenhalten, und so begnügte sie sich damit, die Lider zu senken und die Augen halbgeschlossen zu halten.
»Ich glaube, sie schläft«, sagte Bloch zu dem Archivar, der, da er sich durch die Marquise bestärkt fühlte, eine indignierte Miene aufsetzte. »Adieu, Madame«, brüllte er.
Die Marquise machte mit den Lippen die ganz leichte Bewegung einer Sterbenden, die den Mund öffnen möchte, deren Blick jedoch nichts mehr erkennt. Dann wandte sie sich, überströmend von wiedergefundenem Leben, dem Marquis d’Argencourt zu, während Bloch sich mit der Überzeugung entfernte, sie sei bereits völlig »verkalkt«. Voller Neugier und in der Absicht, einen so seltsamen Vorfall aufzuhellen, suchte er sie nach ein paar Tagen wieder auf. Sie empfing ihn sehr freundlich,denn sie war eine liebenswürdige Frau, und der Archivar war nicht anwesend; sie legte auch Wert auf den Einakter, den Bloch bei ihr aufführen lassen sollte, und schließlich hatte sie die Rolle einer großen Dame, die sie spielen wollte, gespielt, was allgemein bewundert und noch am gleichen Abend in verschiedenen Salons kommentiert wurde, nach einer Version allerdings, die mit der Wahrheit schon keine Beziehung mehr hatte.
»Sie sprachen da von Les sept princesses , Herzogin, Sie wissen (ich bin freilich nicht stolz darauf ), daß der Autor dieses … wie soll ich sagen, dieses Produkts einer meiner Landsleute ist«, bemerkte d’Argencourt mit einer Ironie, in die sich die Genugtuung mischte, besser als die anderen über den Verfasser eines Werkes Bescheid zu wissen, von dem soeben die Rede gewesen war. »Ja, er ist seines Zeichens Belgier«, setzte er hinzu.
»Wirklich? Aber wir machen Sie dennoch nicht für irgend etwas in Les sept princesses verantwortlich. Zum Glück für Sie und Ihre Landsleute haben Sie gar keine Ähnlichkeit mit dem Verfasser dieses Unsinns. Ich kenne sehr liebenswürdige Belgier,
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