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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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Sie selbst, Ihren König, der ein bißchen schüchtern, aber sehr geistreich ist, meine Cousins Ligne und viele andere, aber glücklicherweise drücken sie alle sich nicht wie der Verfasser der Sept princesses aus. Im übrigen muß ich offen sagen, es ist sinnlos darüber zu sprechen, weil es einfach gar nichts ist. Das sind Leute, die versuchen, dunkel zu wirken, und in Kauf nehmen, lächerlich zu sein, um so zu verbergen, daß sie keine Ideen haben. Wenn etwas dahinter steckte, würde ich, das gebe ich offen zu, über gewisse Gewagtheiten gern hinwegsehen«, setzte sie ernsthaft hinzu, »sobald tatsächlich etwas wie ein Gedanke darin enthalten wäre. Ich weiß nicht, ob Sie das Stück von Borelli 1 gesehen haben. Es gibt Leute, die schockiert darüber sind; ich aber, und wenn man mich steinigt«, sagte sie, ohne zu merken,daß sie dieser Gefahr nicht sonderlich stark ausgesetzt war, »gebe offen zu, daß ich es ungemein interessant gefunden habe. Aber Les sept princesses ! Die eine von ihnen hat ja offenbar für meinen Neffen etwas übrig, aber ich kann doch nicht den Familiensinn so weit treiben, daß … «
    Die Herzogin brach kurz ab, denn eine Dame trat ein, es war Roberts Mutter, die Vicomtesse von Marsantes. Madame de Marsantes galt im Faubourg Saint-Germain als ein höheres Wesen von engelhafter Güte und Ergebenheit. Ich hatte davon gehört und keinen besonderen Grund, darüber verwundert zu sein, da ich in diesem Augenblick noch nicht wußte, daß sie die leibliche Schwester des Herzogs von Guermantes war. Später habe ich mich immer wieder darüber gewundert, wie in dieser Gesellschaft melancholische, reine, hingeopferte und wie ideale Kirchenfensterheilige verehrte Frauen demselben genealogischen Stamm entsprießen konnten wie deren rohe, sittenlose und gemeine Brüder. Wenn Geschwister sich in den Zügen so sehr gleichen wie der Herzog von Guermantes und Madame de Marsantes, schienen sie mir auch dieselbe Art von Verstand und Herz besitzen zu müssen, so wie eine gleiche Person zwar gute und schlechte Zeiten, aber doch aller Voraussicht nach keine großen Ideen bei einem beschränkten Geist oder erhabene Selbstverleugnung bei einem harten Herzen haben kann.
    Madame de Marsantes besuchte die Vorlesungen von Brunetière. 1 Sie versetzte den Faubourg Saint-Germain in Begeisterung und wirkte auch, mit ihrem Heiligenleben, an seiner Erbauung. Doch die morphologische Verknüpfung der hübschen Nase mit dem durchdringenden Blick bestimmte mich gleichwohl, Madame de Marsantes in dieselbe Geistes- und Seelenfamilie einzureihen wie ihren herzoglichen Bruder. Ich konnte nicht glauben, daß die bloße Tatsache, eine Frau und vielleichtunglücklich gewesen zu sein, sowie jene, die Meinung aller auf seiner Seite zu haben, bewirken könnte, daß man von den Seinen so verschieden sein sollte wie in den Chansons de geste, wo alle Tugend und Anmut in der Schwester grausamer Gesellen verkörpert ist. Es schien mir, daß die Natur, mit geringerer Freiheit ausgestattet als die alten Dichter, sich mehr oder weniger ausschließlich der der Familie gemeinsamen Elemente bedienen mußte, und konnte ihr eine so große Erneuerungskraft nicht zutrauen, daß sie aus den gleichen Werkstoffen, die zur Herstellung eines Dummkopfes und eines Flegels dienten, auch einen großen Geist ohne jeden Makel der Torheit, eine von aller Roheit unbefleckte Heilige zu erschaffen imstande war. Madame de Marsantes trug ein Kleid aus weißer Surah-Seide, mit einem großen Palmenmuster, aus dem sich Stoffblumen heraushoben, in Schwarz. Sie hatte nämlich drei Wochen zuvor ihren Cousin Montmorency verloren, was sie nicht hinderte, Besuche zu machen und kleinen Dinereinladungen zu folgen, doch in Trauer. Sie war eine große Dame. Durch Atavismus war ihre Seele erfüllt mit der Frivolität der Höflinge, mit allem, was diese an Oberflächlichem und Steifem an sich haben. Madame de Marsantes war nicht fähig gewesen, ihren Eltern lange nachzutrauern, doch um nichts in der Welt hätte sie im ersten Monat nach dem Tod eines Cousins etwas Farbiges getragen. Sie war mehr als liebenswürdig zu mir, weil ich Roberts Freund war und nicht der gleichen Welt angehörte wie Robert. Diese Güte war von gespielter Schüchternheit begleitet, von jenem intermittierenden Zurücknehmen der Stimme, des Blickes, des Gedankens, den man wieder an sich zieht wie einen indiskreten Rock, um ja nicht zu viel Platz einzunehmen und bei aller Geschmeidigkeit so kerzengerade zu

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