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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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geringsten Widerstand zu leisten, Briefe von unglaublicher Heftigkeit, in denen er Kleinigkeiten als wichtig darstellte, die er bisher gar nicht bemerkt zu haben schien. Unter anderen Beispielen kann ich das folgende anführen, weil ich in der Zeit meines Aufenthalts in Balbec davon erfuhr: Madame de Villeparisis, die fürchtete, sie hätte nicht genügend Geld bei sich, um ihren Aufenthalt in Balbec länger auszudehnen, aber aus Geiz unnötige Kosten vermeiden und deshalb kein Geld aus Paris kommen lassen wollte, hatte sich von Charlus dreitausend Francs geborgt. Vier Wochen darauf hatte dieser, aus irgendeinem belanglosen Grund gegenüber seiner Tante verärgert, auf dem Wege telegraphischer Überweisung die Summe zurückverlangt. Er erhielt zweitausendneunhundertneunzig und einige Francs. Als er seiner Tante kurz darauf in Paris begegnete und sich freundschaftlich mit ihr unterhielt, machte er sie in aller Behutsamkeit auf den Irrtum der mit der Überweisung betrauten Bank aufmerksam. »Wieso soll das ein Irrtum sein«, antwortete Madame de Villeparisis, »die telegraphische Überweisung kostet sechs Francs fünfundsiebzig.« – »Ah, natürlich, wenn es absichtlich war, ist es in Ordnung«, erwiderte Charlus. »Ich hatte es Ihnen nur für den Fall gesagt, daß Sie es nicht wüßten, denn wenn die Bank es mit Ihnen weniger nahestehenden Personen ebenso gemacht hätte, wäre es Ihnen sicher unangenehm.« – »Nein, nein, es war kein Irrtum.« – »Im Grunde haben Sie vollkommen recht gehabt«, schloß Charlus heiter und küßte der Tante zärtlich die Hand. Tatsächlich war er ihr keineswegs böse und lächelte nur über diese kleine Knauserei. Einige Zeit darauf aber, als er meinte, seine Tante habe ihn in einer Familienangelegenheit hintergehen und gegen ihn »ein Komplott schmieden« wollen, und diese sich auch noch inziemlich törichter Weise ausgerechnet hinter den Geschäftsleuten verschanzte, mit denen er sie gegen sich verschworen wähnte, hatte er ihr einen Brief geschrieben, der nur so strotzte von Wut und Unverschämtheit. »Ich werde mich nicht damit begnügen, meine Rache zu nehmen,« fügte er als Postskriptum hinzu, »ich werde Sie obendrein auch noch lächerlich machen. Gleich morgen werde ich jedem, der es hören will, die Geschichte von der telegraphischen Überweisung und von den sechs Francs fünfundsiebzig erzählen, die Sie von dreitausend, die ich Ihnen geliehen hatte, zurückbehalten haben; in Verruf werde ich Sie bringen.« Statt dessen war er am nächsten Tag zu seiner Tante gegangen und hatte sie um Verzeihung gebeten wegen dieses Briefes, der wirklich abscheuliche Dinge enthielt. Wem übrigens hätte er die Geschichte mit der telegraphischen Überweisung noch erzählen können? Da er keine Rache, sondern ehrliche Versöhnung wollte, hätte er die Sache mit der Überweisung freilich jetzt verschwiegen. Doch vorher, obschon er sich sehr gut mit seiner Tante stand, hatte er sie überall herumerzählt, nicht aus Bosheit, sondern um die Leute zum Lachen zu bringen und weil er nun einmal die Indiskretion in Person war. Er hatte sie herumerzählt, aber ohne daß Madame de Villeparisis es erfuhr. Als sie nun aus seinem Brief sah, daß er sie dadurch zu kompromittieren gedenke, daß er Umstände bekanntmachte, unter denen richtig gehandelt zu haben er ihr, ihr selbst gegenüber, zugestanden hatte, schloß sie, daß er sie habe täuschen wollen und unaufrichtig gegen sie gewesen sei, als er sie seiner Zuneigung versicherte. Alles das hatte sich inzwischen gelegt, aber keiner von beiden wußte recht, was der andere von ihm hielt. Sicher handelt es sich hier um einen Fall von intermittierendem Zerstrittensein, der ziemlich speziell war. Ganz anders war der zwischen Bloch und seinen Freunden. Noch anderswar der zwischen Charlus und, wie sich zeigen wird, ganz anders gearteten Personen als Madame de Villeparisis. Trotzdem sollte man sich dabei an die Tatsache erinnern, daß die Meinung, die wir voneinander hegen, die Freundschafts- und Familienbeziehungen nur dem Anschein nach etwas Festes an sich haben, in Wirklichkeit sind sie ewig beweglich wie das Meer. So erklären sich die vielen Scheidungsgerüchte über Eheleute, die ein Herz und eine Seele schienen und bald darauf wieder zärtlich voneinander sprechen; so die zahllosen Ungeheuerlichkeiten, die ein Freund über den andern sagt, von dem wir ihn unzertrennlich glaubten und mit dem wir ihn auch wieder ausgesöhnt finden, noch ehe wir uns von

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