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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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antwortete sie.
    Da ich sah, daß sie dabei an etwas dachte, was sie mir verbarg, drang ich weiter in sie. Ganz zufrieden vielleicht, in diesem Salon, wo sie niemanden kannte, durch die Unterhaltung mit einem der Eingeladenen stark in Anspruch genommen zu wirken, zog sie mich auf die Seite.
    »Ich kann mir denken, was Monsieur de Saint-Loup Ihnen andeuten wollte«, antwortete sie, »doch erzählen Sie es ihm nicht weiter, er würde mich für indiskret halten, und an seiner Achtung ist mir sehr gelegen, wissen Sie, mein Ideal ist der ›honnête homme‹. Kürzlich hat Charlus bei der Fürstin von Guermantes diniert; irgendwie kam die Rede auf Sie. Norpois soll dann gesagt haben – es ist wirklich ganz albern, machen Sie sich nur keine Gedanken deswegen, niemand hat der Sache irgendwelche Bedeutung beigelegt, man kannte den Erzähler nur zu genau –, Sie seien ein nahezu hysterischer Schmeichler.«
    Ich habe schon früher von meiner Verblüffung darüber berichtet, daß ein Freund meines Vaters, wie Norpois es war, sich über mich so hatte äußern können. Noch verblüffter war ich, als ich erfuhr, daß meine Erregtheit an jenem schon so weit zurückliegenden Tag, als ich von Madame Swann und Gilberte gesprochen hatte, der Fürstin von Guermantes zur Kenntnis gekommen war, von der ich glaubte, sie wisse gar nichts von mir. Alle unsere Handlungen, Worte und Verhaltensweisen sind von der »Welt«, von den Menschen, die nicht unmittelbar Zeugen davon waren, durch ein Medium getrennt, dessen Durchlässigkeit unendlich variabel ist und uns unbekannt bleibt; ich wußte zwar aus Erfahrung, daß diese oder jene wichtigen Dinge, die wir sehr gern verbreitet gesehen hätten (wie etwa meine so begeisterten Äußerungen über Madame Swann, die ich gegenüber jedermann und bei jeder Gelegenheit fallen ließ in der Hoffnung, daß unter so vielen Saatkörnern doch eines aufgehen werde), auf der Stelle unter den Scheffel gestellt wurden, oft gerade wegen unseres Wunsches; wie viel weiter aber war ich deshalb davon entfernt anzunehmen, ein winziges Wörtchen, das wir selbst vergessen, ja niemals ausgesprochen haben, das unterwegs durch die unvollkommene Refraktion eines anderen Wortes entstanden ist,könne unaufhaltsam über unendliche Distanzen – in diesem Fall bis zu der Fürstin von Guermantes – weitergetragen werden, um auf unsere Kosten das Mahl der Götter zu ergötzen. Was wir von unserem Auftreten im Gedächtnis behalten, bleibt den Allernächsten verborgen; Worte aber, die wir vergessen oder überhaupt nicht gesagt haben, werden Heiterkeit noch auf fernen Planeten erwecken, und das Bild, das die anderen sich von unserem Tun und Treiben machen, sieht dem, das wir uns selbst machen, nicht ähnlicher als einer Zeichnung ein mißratener Abzug, auf dem an manchen Punkten an Stelle eines schwarzen Striches ein leerer Fleck und statt weißer Flächen ein unerklärlicher Schnörkel erscheint. Es kann übrigens vorkommen, daß das, was nicht aufgezeichnet wurde, irgendein irrealer Zug ist, den wir uns zuerkennen, während umgekehrt das, was nur hinzugedichtet scheint, uns tatsächlich eigen ist, jedoch so wesensmäßig zu uns gehört, daß es uns entgeht. So kann der seltsame Abzug, der uns so wenig getroffen scheint, zuweilen die – freilich wenig schmeichelhafte, aber tiefreichende und nützliche – Ähnlichkeit einer Röntgenaufnahme besitzen. Das aber ist kein Grund, uns darin wiederzuerkennen. Wer die Gewohnheit hat, im Spiegel seinem hübschen Gesicht und schönen Oberkörper zuzulächeln, dann aber sein Röntgenbild zu sehen bekommt, wird angesichts dieses knöchernen Rosenkranzes, den man ihm als ein Bild seiner selbst vorlegt, denselben Verdacht auf einen Irrtum hegen wie ein Ausstellungsbesucher, der, vor dem Bildnis einer jungen Frau stehend, im Katalog »Ruhendes Dromedar« liest. Später sollte ich diese Abweichung zwischen unserem Bild, wie wir selbst es uns malen und wie ein Mitmensch es sieht, bei anderen feststellen, die still und zufrieden in einer Sammlung von Photographien leben, die sie selbst von sich gemacht haben, während ringsumher gräßliche Fratzen grinsen, dieihnen gewöhnlich unsichtbar bleiben, bei deren Anblick sie aber in Erstarrung versetzt würden, wenn ein Zufall sie ihnen mit der Bemerkung vor Augen hielte: »Das sind Sie«.
    Vor ein paar Jahren noch wäre ich sehr froh gewesen, Madame Swann erzählen zu können, »zu welchem Behuf« ich zu Norpois so zutraulich gewesen war, da ja dieser

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