Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
natürlich, obwohl …, so doch, wenn Sie wollen, Sie als großer Künstler« fallenlassen, vermied ich gleichwohl im Laden, ihn, wie Saint-Simon gesagt hätte, zu »qualifizieren«, und begnügte mich, seine Anreden mit »Sie« ebenfalls mit einem »Sie« zu quittieren. Unter den verschiedenen Samtstoffen gewahrte er einen von so grellem, ja schreiendem Rot, daß er selbst bei seinem schlechten Geschmack die Weste später niemals tragen konnte. Das junge Mädchen ging mit ihren beiden »Lehrtöchtern« wieder an die Arbeit, aber mir schien, als beruhe der Eindruck auf Gegenseitigkeit und als habe Charles Morel, den sie fürjemanden aus »meiner Sphäre« hielt (nur eleganter und reicher) ihr ausnehmend gut gefallen. Da ich sehr erstaunt gewesen war, unter den Photographien, die sein Vater mir schickte, eine von Elstirs Porträt der Miss Sacripant (das heißt Odettes) zu finden, sagte ich zu Charles Morel, während ich ihn zum Tor begleitete: »Ich fürchte, Sie werden mir da keine Auskunft geben können. Hat mein Onkel diese Dame sehr gut gekannt? Ich sehe nicht recht, in welcher Epoche seines Lebens ich sie unterbringen soll, es interessiert mich aber sehr wegen Monsieur Swann … « – »Ach ja, genau, das habe ich vergessen, Ihnen zu sagen: mein Vater hat mir speziell aufgetragen, Ihre Aufmerksamkeit auf diese Dame zu lenken. Tatsächlich hat diese Halbweltdame an jenem Tag bei Ihrem Onkel zu Mittag gespeist, als Sie ihn zum letzten Mal gesehen haben. Mein Vater wußte damals nicht recht, ob er sie einlassen solle. Es scheint, Sie haben diesem Frauenzimmer sehr gefallen, sie hoffte, Sie wiederzusehen. Aber gerade zu jenem Zeitpunkt scheint es dann, sagt mein Vater, Krach in der Familie gegeben zu haben, und Sie haben Ihren Onkel niemals wiedergesehen.« Um ihr von weitem Lebewohl zu sagen, lächelte er in diesem Augenblick der Nichte Jupiens zu. Sie sah ihm nach und bewunderte gewiß sein mageres Gesicht von regelmäßigem Zuschnitt, sein lockeres Haar, seine munteren Augen. Ich dachte, als ich ihm die Hand drückte, an Madame Swann und suchte mir mit Staunen – so weit waren sie in meiner Erinnerung verschieden und entfernt voneinander – klarzumachen, daß ich sie fortan mit der »Dame in Rosa« gleichsetzen müsse. 1
Es dauerte nicht lange, so saß Charlus neben Madame Swann. Verächtlich gegenüber den Männern und hofiert von den Frauen, war er bei allen gesellschaftlichen Anlässen, an denen er teilnahm, bald neben der elegantesten von ihnen zu finden, mit deren Toilette er auch seineneigenen Körper geschmückt fühlte. In seinem Gehrock oder Frack erinnerte der Baron an jene von einem großen Koloristen geschaffenen Porträts eines Mannes in Schwarz, neben dem aber auf einem Stuhl ein schimmernder Domino liegt, den er auf einem Kostümfest zu tragen gedenkt. 1 Dieses Tête-à-tête, meistens übrigens mit irgendeiner Hoheit, verschaffte Charlus die Art von Distinktion, die er besonders liebte. Es hatte auch beispielsweise zur Folge, daß jeweils die Dame des Hauses bei einem Fest den Baron als einzigen vorn in den Stuhlreihen der Damen sitzen ließ, während die anderen Männer sich im Hintergrund drängelten. Außerdem war Charlus, scheinbar vollkommen damit in Anspruch genommen, der entzückten Dame sehr laut amüsante Geschichten zu erzählen, der Notwendigkeit enthoben, den anderen guten Tag zu sagen, also irgend jemandem seine Aufwartung zu machen. Hinter der parfümierten Schranke, die für ihn die erwählte Schönheit bildete, fand er sich in einem Salon isoliert wie in einer Loge inmitten des Zuschauerraums, und wenn jemand ihn gleichsam durch seine schöne Gefährtin hindurch grüßte, war er entschuldigt, wenn er nur sehr kurz und ohne im Gespräch mit der Dame innezuhalten, dankte. Gewiß gehörte Madame Swann rangmäßig nicht dem Kreis der Personen an, mit denen er sich gern zeigte. Doch hielt er viel darauf, Bewunderung für sie und Freundschaft für Swann an den Tag zu legen, wußte, daß seine Aufmerksamkeit ihr schmeicheln würde und fühlte sich selbst geschmeichelt, daß er gegenüber der hübschesten unter allen anwesenden Damen seinen Höflichkeitspflichten nachkam.
Madame de Villeparisis war übrigens von dem Besuch des Barons nur mäßig entzückt. Er mochte zwar seine Tante sehr, bei aller Hellsichtigkeit für ihre Schwächen. Aber gelegentlich schrieb er ihr, in einer plötzlichenAufwallung von Zorn oder aufgrund eingebildeter Verdächtigungen, ohne seinem Impuls den
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