Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
herrschenden Meinungen die Worte des ehemaligen Botschafters diktierten, so bewiesen sie eben doch, auf welchem völligen Nichtvorhandensein wahren Geschmacks das künstlerische Urteil von mondänen Menschen beruht, das so willkürlich ist, daß es durch ein Nichts zu den schlimmsten Absurditäten hingeleitet werden kann, weil es auf dem Weg zu ihnen auf keinen wirklich empfundenen Eindruck stößt, der es aufhält.
»Es ist bei mir kein Verdienst, daß ich die Blumenkenne, ich habe immer in Feldern und Wiesen gelebt«, antwortete bescheiden Madame de Villeparisis. »Aber«, setzte sie anmutig hinzu, wobei sie sich zu dem Fürsten wandte, »wenn ich bereits in früher Jugend einen etwas genaueren Einblick bekommen habe als andere Landkinder, so verdanke ich das einem sehr prominenten Landsmann von Ihnen, nämlich dem Herrn von Schlegel. Ich habe ihn in Broglie getroffen, wohin meine Tante Cordelia (die Marschallin von Castellane) mich mitgenommen hatte. Ich erinnere mich sehr gut, daß Monsieur Lebrun, Monsieur de Salvandy und Monsieur Doudan ihn auf Blumen zu sprechen brachten. 1 Ich war ein ganz kleines Mädchen und konnte noch nicht recht begreifen, was er sagte. Aber er spielte gern mit mir, und nach seiner Rückkehr in Ihr Land schickte er mir ein schönes Herbarium in Erinnerung an eine Spazierfahrt im Phaethon 2 zum Val Richer 3 , bei der ich auf seinen Knien eingeschlafen war. Ich habe dieses Herbarium immer aufbewahrt, und es hat mich gelehrt, auf viele Eigentümlichkeiten der Pflanzen zu achten, die mir sonst nicht aufgefallen wären. Als Madame de Barante ein paar Briefe der Madame de Broglie 4 veröffentlicht hat, die so schön und gekünstelt waren wie sie selbst, hatte ich gehofft, einige der Gespräche mit Herrn von Schlegel darin festgehalten zu sehen. Aber sie war eine Frau, die in der Natur nur nach Argumenten für die Religion Ausschau hielt.«
Robert rief mich in den Hintergrund des Salons, wo er sich mit seiner Mutter aufhielt.
»Wie nett du gewesen bist«, sagte ich; »wie soll ich dir nur danken? Können wir vielleicht morgen zusammen zu Abend essen?«
»Morgen, wenn du willst, aber dann mit Bloch; ich habe ihn vor der Tür getroffen; nach einem Augenblick der Kühle, weil ich ihn unabsichtlich auf zwei Briefe ohne Antwort gelassen hatte (er hat mir nicht gesagt,daß er deswegen verletzt war, ich habe es aber erraten), war er so liebevoll zu mir, daß ich mich gegen einen solchen Freund nicht undankbar zeigen kann. Unter uns gesagt, ich habe das Gefühl, daß es, von seiner Seite zumindest, eine Freundschaft fürs Leben ist.«
Ich glaube nicht einmal, daß Robert sich unbedingt täuschte. Wütendes Anschwärzen war bei Bloch oft die Auswirkung lebhafter Sympathie, die er unerwidert glaubte. Und da er für das Leben der anderen wenig Phantasie besaß, stellte er sich nicht vor, daß man krank oder verreist usw. sein konnte, so daß ein Schweigen von acht Tagen ihm schnell einmal von absichtlicher Kälte herzurühren schien. Ich habe daher auch nie geglaubt, daß seine heftigsten Ausfälle als Freund und später als Schriftsteller aus tiefster Seele kamen. Sie nahmen ungemein zu, wenn man ihnen mit eisiger Würde begegnete oder sie mit Seichtheiten quittierte, die ihn ermutigten, den Angriff zu verdoppeln, doch wichen sie oft einer warmen Sympathie. »A propos nett«, fuhr Saint-Loup fort, »du behauptest zwar, daß ich es dir gegenüber gewesen bin. Aber ich war im Grunde gar nicht nett, denn meine Tante sagt, du gingest ihr aus dem Weg und hättest kein Wort zu ihr gesagt. Sie fragt sich, ob du nicht etwas gegen sie hast.«
Auch wenn ich mich von diesen Worten hätte täuschen lassen, so hätte mich doch zu meinem Glück unsere, wie ich glaubte, unmittelbar bevorstehende Abreise nach Balbec an einem Versuch gehindert, Madame de Guermantes wiederzusehen und ihr zu versichern, ich habe nichts gegen sie, und sie so in die Notwendigkeit zu versetzen, mir zu beweisen, sie habe vielmehr etwas gegen mich. Aber ich brauchte mich ja nur daran zu erinnern, daß sie mir nicht einmal angeboten hatte, ihre Elstirs zu besichtigen. Im übrigen war das keine Enttäuschung; ich hatte keineswegs erwartet, daß sie davon zu mir etwassagen werde; ich wußte, daß ich ihr nicht gefiel, daß ich nicht hoffen durfte, sie werde mich jemals lieben; da ich sie vor meiner Abreise aus Paris nicht wiedersehen sollte, war das Äußerste, was ich mir hatte wünschen können, dank ihrer Güte anstelle einer mit Angst
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