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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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schüchtern vorgebrachte Behauptung; ohne ihn dadurch die Waffen ablegen zu lassen, unterwirft die Mutter sich unverzüglich der Meinung jenes höhergearteten Wesens, das sie in dessen Abwesenheit wieder jedem gegenüber als einen wundervollen Charakter preisen wird und das ihr dennoch keinen seiner schärfsten Pfeile erspart. Saint-Loup war an sich keineswegs so, doch seine Beängstigung durch die Trennung von Rachel bewirkte, daß er aus anderen Gründen nicht minder hart gegen seine Mutter war, als solche Söhne es gegen die ihre sind. Bei seinen Worten aber sah ich bei Madame de Marsantes jene gleiche flügelschlagartige Bewegung, die sie beim Eintreten ihres Sohnes nicht hatte unterdrücken können und die sie jetzt wieder in die Höhe zwang; doch war es nun ein angstvolles Gesicht, Augen voll tiefen Grams, die sie auf ihn heftete.
    »Wie, Robert, du gehst? Ist das dein Ernst? Mein lieber Junge! Der einzige Tag, an dem ich dich haben könnte!«
    Und fast leise, im allernatürlichsten Tonfall und mit einer Stimme, aus der sie alle Traurigkeit zu verbannen suchte, um nicht ihrem Sohn ein Mitleid einzuflößen, das vielleicht grausam für ihn oder doch nutzlos wäre, geeignet nur, ihn zu reizen, fügte sie, als handle es sich nur um einen Ausdruck gesunder Vernunft, hinzu:
    »Du weißt, daß es nicht nett ist, was du da tust.«
    Dieser schlichten Feststellung aber mischte sie so viel Schüchternheit bei, um ihm zu zeigen, daß sie ihn nicht etwa in seiner Freiheit einschränken wolle, so viel Zärtlichkeit, damit er ihr nicht vorwerfe, sie wolle ihn an seinen Vergnügungen hindern, daß Saint-Loup nicht umhin konnte, etwas wie die Möglichkeit von Rührung in sich zu entdecken, das heißt etwas, was ihn daran hindern würde, den Abend mit seiner Freundin zu verbringen. Deshalb wurde er wütend:
    »Das ist sehr bedauerlich, aber nett oder nicht, es ist nun einmal so.«
    Und nun machte er seiner Mutter die Vorwürfe, von denen er bestimmt fühlte, daß er sie womöglich selbst verdiente; so haben Egoisten immer das letzte Wort: ihr Entschluß steht von vornherein unabänderlich fest; deshalb erachten sie, je rührender das Gefühl ist, an das man in ihnen appelliert, um sie umzustimmen, für um so verdammenswerter nicht sich selbst, die sie diesem Gefühl widerstehen, sondern jene, die sie in die Notwendigkeit versetzen, ihm widerstehen zu müssen, so daß ihre eigene Härte bis zu äußerster Grausamkeit gehen kann, ohne dabei in ihren Augen die Schuld derer nicht um so größer erscheinen zu lassen, die unzart genug sind, zu leiden, recht zu haben und ihnen in dieser feigen Art den Schmerz zufügen, gegen das eigene Mitleid zu handeln. Übrigens gab es Madame de Marsantes von selbst auf, weiter in ihn zu dringen, denn sie fühlte, sie könnte ihn doch nicht mehr zurückhalten.
    »Ich verlasse dich jetzt«, sagte er zu mir, »aber, Mama, halten Sie ihn nicht zu lange auf, er muß gleich noch einen Besuch machen.«
    Ich war mir klar darüber, daß meine Anwesenheit Madame de Marsantes kein Vergnügen bereiten konnte, aber es war mir lieber, daß sie nicht – wie etwa bei einem gemeinsamen Aufbruch mit Robert – meinen konnte, ich habe mit jenen Vergnügungen etwas zu tun, die ihn ihr raubten. Gern hätte ich mir eine Entschuldigung für sein Verhalten einfallen lassen, weniger aus Liebe zu ihm als aus Mitleid mit ihr. Doch sie selbst nahm das Gespräch wieder auf:
    »Der arme Junge«, sagte sie zu mir, »ich bin sicher, ich habe ihm Verdruß bereitet. Sehen Sie, Monsieur, Mütter sind nun einmal sehr egoistisch; er hat ja dabei so wenig Vergnügungen, wo er so selten nach Pariskommt. Mein Gott, wenn er noch nicht fort wäre, riefe ich ihn am liebsten noch einmal, nicht um ihn zurückzuhalten natürlich, nur um ihm zu sagen, daß ich ihm nicht böse bin und finde, daß er ganz recht hatte. Es macht Ihnen doch nichts aus, wenn ich im Treppenhaus nachschaue?«
    Wir gingen zusammen hin.
    »Robert! Robert!« rief sie. »Nein, er ist fort, es ist zu spät.«
    Jetzt hätte ich ebensogern den Auftrag übernommen, Robert mit seiner Geliebten auseinanderzubringen, wie ein paar Stunden zuvor, ihn dazu zu bewegen, daß er ganz mit ihr lebte. In dem einen Fall hätte Saint-Loup mich für einen treulosen Freund erachtet, im anderen seine Familie in mir seinen bösen Genius gesehen. Dennoch war ich, bis auf ein paar Stunden Unterschied, ein und derselbe Mensch.
    Wir kehrten in den Salon zurück. Als Madame de Villeparisis

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