Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
Vom Netzwerk:
Saint-Loup nicht wieder zurückkommen sah, tauschte sie mit Norpois jenen spöttisch fragenden und nicht gerade von tiefem Mitleid bewegten Blick, mit dem man auf eine allzu eifersüchtige Ehefrau oder übertrieben zärtliche Mutter weist (die den anderen ein erheiterndes Schauspiel bieten) und der bedeutet: »Sieh mal an! Hier hat es offenbar etwas abgesetzt.«
    Robert ging zu seiner Geliebten und brachte ihr den kostbaren Schmuck, den er ihr gemäß ihren gemeinschaftlichen Konventionen nicht hätte geben dürfen. Es kam übrigens auf dasselbe heraus, denn sie wollte ihn nicht, und auch später gelang es ihm nie, sie zur Annahme zu bewegen. Manche Freunde Roberts meinten, solche Beweise der Selbstlosigkeit seien pure Berechnung, damit sie ihn fester an sich binden könnte. Gleichwohl hing sie nicht am Geld, höchstens um es auszugeben, ohne rechnen zu müssen. Ich habe selbst mitangesehen, wie sie aufsGeratewohl Leuten, die sie für arm hielt, sinnlose Mildtätigkeiten erwies. »In diesem Augenblick«, sagten die gleichen Freunde zu Robert, um durch schlechte Nachrede eine Selbstlosigkeit Rachels zu entwerten, »ist sie sicher in den Wandelgängen des Folies-Bergère. Diese Rachel ist wirklich ein Rätsel, eine wahre Sphinx.« Wie viele auf Eigennutz bedachte – da ausgehaltene – Frauen sieht man übrigens nicht mit einem Zartgefühl, das auf dem Boden solcher Existenzen gedeiht, der Großzügigkeit ihres Liebhabers ganz von selbst bei tausend kleinen Dingen Grenzen setzen!
    Robert wußte kaum etwas von allen den Fällen, in denen seine Geliebte ihm untreu gewesen war, brütete aber über Nichtigkeiten, die verglichen mit ihrem wahren Leben nichts zu bedeuten hatten, einem Leben nämlich, das sie jeden Tag erst begann, nachdem er gegangen war. Daß sie ihm untreu war, davon wußte er kaum etwas. Man hätte ihm darüber berichten können, ohne im geringsten sein Vertrauen zu Rachel zu erschüttern, denn ein reizendes Gesetz der Natur, das sich noch in den komplexesten Gesellschaften zeigt, will, daß man in völliger Unkenntnis dessen lebt, was man liebt. Auf der einen Seite des Spiegels sagt sich der Verliebte: Sie ist ein Engel, nie wird sie sich mir hingeben, es bleibt mir nichts, als zu sterben, und dennoch liebt sie mich; sie liebt mich so sehr, daß sie vielleicht … doch nein, das ist nicht möglich. Und wie viele Kleinodien legt er dann im Taumel seines Begehrens, in der Angst der Erwartung dieser Frau zu Füßen, wie eilt er, um Geld zu borgen und ihr eine Sorge zu ersparen! Doch auf der anderen Seite der Trennwand, die jene Reden ebensowenig durchläßt wie die Kommentare der Spaziergänger vor einem Aquarium, sagt man sich in der Öffentlichkeit: Was? Die kennen Sie nicht? Da gratuliere ich Ihnen, sie hat wer weiß wie viele Männer ausgeraubt, ruiniert. Ein schlimmeres Frauenzimmer gibt esüberhaupt nicht. Eine Schurkin! Und durchtrieben dazu! Vielleicht ist dieses letztere Beiwort nicht unbedingt falsch gewählt, denn selbst ein Skeptiker, der nicht wirklich in diese Frau verliebt ist, dem sie aber gefällt, sagt zu seinen Freunden: »Aber nein, mein Lieber, eine Kokotte ist sie ganz und gar nicht; ich will nicht sagen, daß sie nicht in ihrem Leben das eine oder andere Abenteuer gehabt hat, aber sie ist keine Frau, die man für Geld haben kann, oder zumindest wäre es dann allzu teuer. Für fünfzigtausend Francs macht sie es; oder dann umsonst.« Er selbst aber hat fünfzigtausend Francs für sie ausgegeben und sie einmal gehabt; da sie jedoch bei ihm einen Helfershelfer gefunden hat in Gestalt seiner Eigenliebe, hat sie ihm einzureden vermocht, er sei einer von denen, die sie umsonst gehabt hätten. So ist die Gesellschaft: jeder hat ein Doppelwesen, und selbst die bekannteste oder auch die übelstbeleumdete Persönlichkeit wird von irgendeiner anderen nie anders wahrgenommen als im Schoß und Schutz einer Muschelschale oder eines lieblichen Kokons, einer entzückenden Kuriosität der Natur. Es gab in Paris zwei durchaus ehrenwerte Männer, die Saint-Loup nicht mehr grüßte und von denen er nur mit entrüstungsbebender Stimme sprach, wobei er sie Ausbeuter schutzloser Frauen nannte: beide hatte Rachel nämlich ruiniert.
    »Ich mache mir nur einen Vorwurf«, sagte Madame de Marsantes ganz leise zu mir, »nämlich daß ich ihm gesagt habe, er sei nicht nett. Ihm, diesem prachtvollen Sohn, wie es keinen zweiten gibt, sage ich ausgerechnet das einzige Mal, wo ich ihn sehe, ich fände ihn nicht nett;

Weitere Kostenlose Bücher