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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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lieber hätte ich Stockschläge bekommen, denn ich bin ganz sicher, daß jedes Vergnügen heute abend – und er hat schon nicht viele – ihm durch dieses ungerechte Wort verdorben wird. Aber ich will Sie nicht aufhalten, Sie sind sicher in Eile.«
    Madame de Marsantes sagte mir mit ängstlicher Besorgnis auf Wiedersehen. Dieses Gefühl bezog sich auf Robert; sie war aufrichtig darin. Doch dann hörte sie auf, es zu sein, um wieder große Dame zu werden:
    »Es hat mich so sehr interessiert , ich war beglückt , es hat mir so sehr geschmeichelt , ein Weilchen mit Ihnen zu plaudern. Vielen, vielen Dank!«
    Geradezu demütig heftete sie ihre dankbar entzückten Blicke auf mich, als sei die Unterhaltung mit mir eines der größten Vergnügen gewesen, die ihr das Leben beschert hatte. Diese bezaubernden Blicke paßten sehr gut zu den schwarzen Blumen auf dem weißen Kleid mit dem Rankenmuster; sie waren die einer großen Dame, die sich auf ihr Metier versteht.
    »Aber ich habe gar keine Eile, Madame«, antwortete ich ihr; »im übrigen warte ich noch auf Monsieur de Charlus, mit dem ich zusammen aufbrechen will.«
    Madame de Villeparisis hatte diese letzten Worte gehört. Sie schien darüber verstimmt. Hätte es sich nicht um eine Sache gehandelt, bei der eine Regung dieser Art ganz ausgeschlossen war, hätte ich gemeint, Madame de Villeparisis fühle sich in ihrem Schamgefühl verletzt. Doch kam mir eine solche Hypothese nicht einmal in den Sinn. Ich war zufrieden mit Madame de Guermantes, mit Saint-Loup, mit Madame de Marsantes, Monsieur de Charlus und Madame de Villeparisis, ich überlegte nicht, sondern redete fröhlich darauflos, aufs Geratewohl.
    »Sie wollen mit meinem Neffen Palamède aufbrechen?« sagte sie.
    In der Meinung, es könne auf Madame de Villeparisis einen sehr günstigen Eindruck machen, daß ich mit ihrem Neffen, von dem sie soviel hielt, sehr gut bekannt sei, gab ich voll Freude Auskunft: »Er hat mich gebeten, ihn nach Hause zu begleiten. Ich bin entzückt darüber. Übrigens bin ich weit stärker befreundet mit ihm, alsSie meinen, Madame, und würde alles tun, um es noch mehr zu werden.«
    War sie zuerst nur verstimmt gewesen, schien Madame de Villeparisis nunmehr besorgt: »Warten Sie nicht auf ihn«, sagte sie ängstlich zu mir, »er spricht gerade mit dem Fürsten von Faffenheim. Er denkt schon nicht mehr daran, was er Ihnen gesagt hat. Kommen Sie, brechen Sie schleunigst auf, nutzen Sie den Augenblick, er kehrt Ihnen gerade den Rücken.«
    Die Unruhe von Madame de Villeparisis, die sich hier zum erstenmal zeigte, hätte in einer anderen Situation dem Schamgefühl entspringen können. Hätte man nur ihr Gesicht zu Rate gezogen, wäre man nahe daran gewesen, ihren beharrlichen Widerstand auf eine Regung der Tugend zurückzuführen. Ich meinerseits hatte keine Eile, Robert und seine Geliebte zu treffen. Doch Madame de Villeparisis schien solchen Wert darauf zu legen, mich auf der Stelle aufbrechen zu sehen, daß ich, in der Meinung, sie wolle vielleicht mit ihrem Neffen wichtige Angelegenheiten besprechen, mich von ihr verabschiedete. Neben ihr saß Monsieur de Guermantes in olympischer Großartigkeit schwer auf seinem Stuhl. Man hätte meinen können, die in seinen sämtlichen Gliedern allgegenwärtige Vorstellung von seinen großen Reichtümern verleihe ihm einen besonders hohen Dichtigkeitsgrad, als seien diese im Tiegel zu einem einzigen Barren in Menschengestalt zusammengeschmolzen worden, um einen Mann von diesem Preis zu schaffen. In dem Augenblick, da ich ihm auf Wiedersehen sagte, erhob er sich höflich von seinem Sitz, und ich fühlte die träge Masse von dreißig Millionen, die durch die alte französische Erziehung in Bewegung gesetzt, emporgetragen wurde und nun vor mir stand. Ich meinte jene Statue des Jupiter Olympios zu sehen, die Phidias, wie man sagt, aus purem Gold gegossen hatte. 1 So viel Macht besaß die jesuitischeErziehung über Monsieur de Guermantes, zumindest über seinen Körper, denn über den Geist des Herzogs herrschte sie nicht ebenso unbeschränkt. Monsieur de Guermantes lachte über seine eigenen Witze, doch verzog er keine Miene bei denen der anderen.
    Auf der Treppe hörte ich hinter mir eine Stimme, die mich rief:
    »So also warten Sie auf mich, Monsieur!«
    Es war Charlus.
    »Macht es Ihnen etwas aus, ein paar Schritte zu Fuß zu gehen?« fragte er sehr kühl, als wir im Hof angekommen waren. »Wir gehen, bis ich eine Droschke gefunden habe, die mir

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