Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
kaum noch mehr als Kammerdiener. Doch junge Bürgerliche wie Sie lesen, und Sie kennen bestimmt so gut wie ich die schöne Stelle bei Michelet: ›Wahrlich groß erscheinen mir die mächtigen Guermantes. Was ist schon neben ihnen der armselige kleine König von Frankreich, der sich in seinem Pariser Palast verschanzt?‹ 1 Ich spreche nicht gern von dem, was ich selberbin, aber schließlich, wie Ihnen vielleicht zu Ohren gekommen ist – ein ziemlich aufsehenerregender Artikel in der Times 1 hat darauf angespielt –, hat der Kaiser von Österreich, der mich immer mit seiner Huld beehrte und Verwandschaftsbeziehungen mit mir zu pflegen die Güte besaß, in einem öffentlich bekanntgewordenen Gespräch einst erklärt, daß der Graf von Chambord, hätte er neben sich einen Mann gehabt, der so tief wie ich in die Untergründe der europäischen Politik Einblick gehabt hätte, heute König von Frankreich wäre. 2 Ich habe schon oft gedacht, Monsieur, daß in mir – nicht aufgrund meiner bescheidenen Gaben, sondern durch Umstände, von denen Sie vielleicht eines Tages Kenntnis erhalten werden – ein Schatz von Erfahrung ruht, ein unbezahlbares geheimes Aktenmaterial, das ich persönlich zu nutzen nicht für richtig erachtet habe, das aber unschätzbaren Wert für einen jungen Mann besäße, dem ich in wenigen Monaten vermitteln könnte, was ich in mehr als dreißig Jahren erworben habe und vielleicht als einziger besitze. Ich spreche nicht von den geistigen Genüssen, die die Bekanntschaft mit gewissen Geheimnissen für Sie bedeuten müßte, für die ein Michelet unserer Tage Jahre seines Lebens gäbe, da durch sie gewisse Ereignisse ein von Grund auf anderes Gesicht erhalten würden. Ich spreche dabei nicht nur von Ereignissen, die bereits stattgefunden haben, sondern von der Verkettung von Umständen überhaupt« (es war dies einer der Lieblingsausdrücke von Charlus, und oft, wenn er ihn anbrachte, legte er seine beiden Hände zusammen wie zum Gebet, doch mit gestreckten Fingern, ganz als wolle er durch dieses Gebärdenspiel die Umstände veranschaulichen, die er nicht näher bezeichnete, sowie ihre Verkettung). »Ich könnte Ihnen eine unbekannte Erklärung nicht nur der Vergangenheit, sondern auch der Zukunft geben.«
Charlus unterbrach sich, um mir Fragen über Bloch zustellen, von dem bei Madame de Villeparisis die Rede gewesen war, ohne daß er zuzuhören schien. In dem Tonfall, den er vom Inhalt dessen, was er sagte, so gut zu trennen verstand, daß man den Eindruck hatte, er denke an etwas ganz anderes und spreche nur mechanisch aus bloßer Höflichkeit, fragte er mich, ob mein Kamerad jung und schön sei, usw. Hätte Bloch ihn gehört, so wäre es ihm noch schwerer gefallen als bei Norpois – doch aus ganz anderen Gründen –, sich darüber klar zu werden, ob Charlus für oder gegen Dreyfus sei. »Sie tun ganz recht, wenn Sie Ihren Gesichtskreis erweitern wollen«, sagte Charlus, nachdem er mir diese Fragen über Bloch gestellt hatte, »unter Ihren Freunden ein paar Ausländer zu haben.« Ich gab ihm zur Antwort, daß Bloch Franzose sei. »Ah!« meinte Charlus, »ich glaubte, er sei Jude.« Die Behauptung einer solchen Unvereinbarkeit erweckte in mir die Vorstellung, Monsieur de Charlus sei ein größerer Dreyfus-Gegner als irgendeine der Personen, denen ich begegnet war. Er aber erhob im Gegenteil Einspruch gegen die Beschuldigung, Dreyfus habe Verrat geübt. Freilich in folgender Form: »Soviel ich weiß, sagen die Zeitungen, Dreyfus habe ein Verbrechen gegen sein Vaterland begangen; ich glaube wenigstens, es heißt so, ich schenke den Zeitungen keine Aufmerksamkeit. Ich lese sie, wie man sich die Hände wäscht, ohne zu finden, es lohne sich, dafür Interesse aufzubringen. Auf alle Fälle ist dieser Vorwurf gegenstandslos; der Landsmann Ihres Freundes hätte ein Verbrechen gegen sein Vaterland begangen, hätte er Judäa verraten; aber was hat er mit Frankreich zu tun?« Ich warf ein, daß, wenn es jemals Krieg gäbe, die Juden ebenfalls wie andere mobilisiert würden. »Vielleicht, wobei nicht feststeht, ob das nicht unüberlegt wäre. Aber wenn man Senegalesen und Madegassen kommen läßt, so werden sie, vermute ich, Frankreich ohne große Begeisterung verteidigen, daswäre nur natürlich. Ihr Dreyfus könnte eher wegen Übertretung der Regeln der Gastfreundschaft verurteilt werden. Aber lassen wir das. Vielleicht könnten Sie Ihren Freund bitten, mich irgendeinem schönen Fest im Tempel, einer
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