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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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ihreGefühle, während für ihn die Dreyfus-Affäre ein unwiderlegbares Theorem war, das sich seinem Verstand stellte und dessen Richtigkeit er durch seine Wirkung bewies, nämlich durch den erstaunlichsten Erfolg rationaler Politik (einen gegen Frankreich gerichteten Erfolg, sagten manche), den man je erlebt hat. Innerhalb von zwei Jahren ersetzte er eine Regierung Billot durch eine Regierung Clemenceau, revolutionierte die öffentliche Meinung und holte Picquart aus dem Gefängnis, um dem Undankbaren im Kriegsministerium einen Posten zu geben. Vielleicht wurde dieser die Massen so trefflich steuernde Rationalist selbst durch seine Abstammung gesteuert. Wenn philosophische Systeme, die den höchsten Grad von Wahrheit enthalten, ihren Urhebern letzten Endes durch gefühlsmäßige Impulse diktiert werden, wie sollte man dann vermuten, daß in einer rein politischen Angelegenheit wie der Dreyfus-Affäre nicht Gründe dieser Art, den Argumentierenden unbewußt, dem Verstand gebieten können? Bloch glaubte auf logischem Weg zu seiner Parteinahme für Dreyfus gekommen zu sein und wußte doch, daß seine Nase, sein Haar und seine Haut ihm durch seine Rasse auferlegt worden waren. Gewiß ist der Verstand freier; dennoch gehorcht auch er Gesetzen, die er sich nicht selbst gegeben hat. Der Fall des Maître d’hôtel der Guermantes und des unsrigen lag nun ganz besonders. Die Wogen der beiden Strömungen pro und contra Dreyfus, die Frankreich von oben nach unten spalteten, gingen ziemlich lautlos, aber das gelegentliche Echo, das sie fanden, war doch echt. Wenn man jemand inmitten eines Gesprächs, das absichtlich nicht die Affäre zum Gegenstand hatte, verstohlen irgendeine politische Neuigkeit mitteilen hörte, die meist falsch, doch stets wunschgeboren war, so konnte man von dem Gegenstand seiner Vorhersage auf die Richtung seiner Neigungen schließen. So stießen anein paar Punkten ein schüchternes Apostolat auf der einen Seite und heilige Empörung auf der anderen aufeinander. Die beiden Diener, die ich beim Nachhausekommen mitanhörte, machten eine Ausnahme von der Regel. Der unsere gab zu verstehen, daß Dreyfus schuldig, der der Guermantes, daß er unschuldig sei. Sie taten das nicht, um ihre Überzeugungen zu bemänteln, sondern aus Bosheit und Streitsucht. Unser Diener, unsicher, ob die Revision zustande kommen werde, wollte im voraus für den Fall einer Niederlage dem Diener der Guermantes das Vergnügen rauben zu meinen, eine gerechte Sache habe eine Schlappe erlitten. Der Diener der Guermantes dachte, daß bei einer Ablehnung der Revision der unsere sich mehr ärgern würde, wenn auf der Teufelsinsel ein Unschuldiger festgehalten würde. Der Concierge schaute ihnen zu. Ich hatte den Eindruck, daß nicht er es war, der Zwietracht unter die Bediensteten der Guermantes brachte.
    Ich stieg zu unserer Wohnung hinauf und fand meine Großmutter bei noch schlechterem Befinden vor. 1 Seit einiger Zeit klagte sie, ohne recht zu wissen, was ihr eigentlich fehlte, über ihre Gesundheit. Im Zustand der Krankheit merken wir, daß wir nicht allein existieren, sondern an ein Wesen aus einem ganz anderen Reich gefesselt sind, von dem uns Abgründe trennen, das uns nicht kennt und dem wir uns unmöglich verständlich machen können: unseren Körper. Einen beliebigen Straßenräuber, dem wir auf einer Landstraße begegnen, können wir vielleicht für etwas, was sein eigenes Interesse berührt, wenn nicht für unser Unglück, empfänglich stimmen. Aber Mitleid von unserem Körper zu verlangen ist, als wollten wir mit einem Kraken ein Gespräch eröffnen, für den unsere Worte nicht mehr Sinn hätten als das Geräusch des Wassers und mit dem zu stetem Zusammenleben verurteilt zu sein uns mit Grauen erfüllenwürde. Die körperlichen Beschwerden meiner Großmutter entgingen oft ihrer unaufhörlich auf uns gerichteten Aufmerksamkeit. Wenn sie zu sehr unter ihnen litt, bemühte sie sich vergebens, sie zum Zweck der Heilung zu verstehen. Blieben nun die Krankheitserscheinungen, deren Schauplatz ihr Körper war, ihrem Bewußtsein dunkel und unfaßbar, so waren sie doch klar und verständlich für die Wesen, die dem gleichen Reich des Physischen wie jene angehören und an die der menschliche Geist sich schließlich gewandt hat, um zu erfassen, was sein Körper sagt, so wie man, um die Antworten eines Fremden zu verstehen, jemand aus demselben Land als Dolmetscher wählt. Sie vermögen mit unserem Körper zu sprechen und uns zu sagen, ob

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