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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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allem und besonders aber wird man darauf sehen müssen, mit welchen Personen Sie kameradschaftlich verkehren. Halten Sie sich Mätressen, wenn Ihre Familie nichts dagegen hat, das geht mich nichts an, ich möchte Sie sogar eher dazu ermutigen, Sie kleiner Schlingel, Sie Schlingel, der Sie bald nötig haben werden, sich rasieren zu lassen«, sagte er, indem er mein Kinn berührte. »Doch die Wahl der männlichen Freunde ist ungleich wichtiger. Von zehn jungen Männern sind acht kleine Lumpen, kleine Schurken, die geeignet sind, Ihnen Schaden zuzufügen, der nicht wieder gutzumachen ist. Sehen Sie, mein Neffe Saint-Loup ist allenfalls ein guter Kamerad für Sie. Für Ihre Zukunft nützt er Ihnen nichts; doch dafür genüge ich vollauf. Doch alles in allem, um mit ihm auszugehen, wenn Sie einmalgerade genug von mir haben sollten, scheinen keine ernstlichen Bedenken gegen ihn zu sprechen, glaube ich. Er ist wenigstens ein Mann und nicht einer von diesen Weichlingen, auf die man heute überall stößt, die aussehen wie kleine Stricher und morgen vielleicht ihre unschuldigen Opfer aufs Schafott bringen.« (Ich kannte den Sinn des Slangausdrucks »Stricher« nicht. Wer ihn aber gekannt hätte, wäre ebenso erstaunt gewesen wie ich. Leute aus der Gesellschaft drücken sich gern in Slang aus, und Leute, denen man gewisse Dinge zum Vorwurf machen kann, zeigen gern, daß sie sich keineswegs von ihnen zu reden scheuen. Ein Beweis von Unschuld in ihren Augen. Doch haben sie jedes Maß verloren, merken nicht mehr, von welchem Punkt an gewisse Scherze zu speziell werden, zu schockierend, mehr zu einem Beweis der Verderbtheit als der Harmlosigkeit.) »Er ist nicht wie die anderen, er ist sehr nett, sehr tüchtig.«
    Ich lächelte unwillkürlich über das Adjektiv »tüchtig«, das durch den Tonfall, in dem Charlus es aussprach, den Sinn von »tugendhaft« oder »anständig« zu bekommen schien, wie man von einer kleinen Arbeiterin sagt, sie sei »ein tüchtiges Mädchen«. In diesem Augenblick kam eine Droschke in bedenklichem Zickzack vorbei; ein junger Kutscher, der seinen Sitz auf dem Bock verlassen hatte, lenkte den Wagen vom Fond aus, wo er auf den Polstern saß und halb betrunken wirkte. Mit einer lebhaften Bewegung hielt Charlus ihn an. Der Kutscher verhandelte eine Weile.
    »In welche Richtung wollen Sie denn?«
    »In Ihre« (was mich erstaunte, denn Charlus hatte bereits mehrere Droschken mit Laternen der gleichen Farbe abgelehnt).
    »Aber ich will nicht wieder auf den Bock. Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich im Wagen bleibe?«
    »Nein, nur lassen Sie das Verdeck herunter. Alsodenken Sie über meinen Vorschlag nach«, sagte Charlus zu mir, bevor er mich verließ, »ich gebe Ihnen ein paar Tage Zeit, damit Sie es sich überlegen, schreiben Sie mir dann. Ich wiederhole, ich muß Sie jeden Tag sehen und von Ihnen Beweise Ihrer Loyalität, Ihrer Verschwiegenheit erhalten, für die Sie übrigens, wie mir scheint, durchaus Garantien bieten. Aber ich habe mich im Laufe meines Lebens so oft durch den Augenschein täuschen lassen, daß ich mich auf ihn nicht länger verlassen möchte. Sackerlot! es ist ja wohl das mindeste, daß ich, bevor ich einen Schatz weggebe, weiß, in welche Hände er gelangt. Bedenken Sie also gut, was ich Ihnen biete, Sie sind am Scheideweg wie Herkules 1 – dessen kräftige Muskulatur Sie leider nicht zu besitzen scheinen. Richten Sie sich so ein, daß Sie nicht lebenslänglich bedauern müssen, nicht den Weg der Tugend gewählt zu haben. Wie«, sagte er dann zu dem Kutscher, »Sie haben das Verdeck noch nicht heruntergelassen? Ich muß es wohl selbst einklappen? Im übrigen glaube ich, daß ich auch besser selbst fahre, wenn ich bedenke, in welchem Zustand Sie offenbar sind.«
    Mit einem Satz war er neben dem Kutscher im Fond des Wagens, der in raschem Trab davonfuhr.
    Was mich betrifft, so erlebte ich, kaum nach Hause gekommen, das Pendant zu der Unterhaltung, die eben zwischen Bloch und Norpois stattgefunden hatte, aber in abgekürzter, pervertierter und grausam gewordener Form, nämlich in Gestalt eines Streites zwischen unserem Maître d’hôtel, der für, und dem der Guermantes, der gegen Dreyfus war. Die Wahrheiten und Gegenwahrheiten, die oben bei den Intellektuellen der Liga für das französische Vaterland und der Liga für Menschenrechte 2 aufeinanderprallten, waren tatsächlich bis in die Tiefen des Volkes hinabgedrungen. Monsieur Reinach 3 steuerte Menschen, die ihn nie gesehen hatten, durch

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