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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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abtastete; er erkundete das Terrain und bereitete alles vor für den prähistorischen Kampf, der gleich darauf einsetzen sollte. In einem Augenblick war die Python 2 zermalmt, das Fieber von dem mächtigen chemischen Element überwunden, dem meine Großmutter durch die Naturreiche hindurch, über alle Tiere und Pflanzen hinweg, gern gedankt hätte. Sie war ganz gerührt von dieser über so viele Jahrhunderte hinweg erfolgten Begegnung mit einem Element, dessen Erschaffung vor der der Pflanzen lag. Das Thermometer fürseinen Teil hielt, wie eine von einer älteren Gottheit im Augenblick besiegte Parze, seine silberne Spindel still. Doch ach! Andere untergeordnete Geschöpfe, die der Mensch zur Jagd auf das geheimnisvolle Wild abgerichtet hat, das er in den Tiefen seines Innern nicht verfolgen kann, spürten grausamerweise täglich einen Eiweißwert auf, der zwar schwach, aber doch hinlänglich beständig war, um auch seinerseits auf irgendeinen chronischen Zustand hinzuweisen, den wir nicht wahrnehmen konnten. Bergotte hatte in mir das instinktive Bedenken brüskiert, das mich veranlaßte, meine Intelligenz zurückzustellen, als er mir Doktor du Boulbon als einen Arzt schilderte, der mich nicht langweilen und auf den ersten Blick vielleicht merkwürdige, aber meiner geistigen Eigenart entsprechende Behandlungsweisen finden würde. Doch die Vorstellungen wandeln sich in uns, sie triumphieren über die Widerstände, die wir ihnen vorerst entgegensetzen, und ziehen ihre Nahrung aus schon vorhandenen, reichhaltigen geistigen Reserven, von denen wir nicht wußten, daß sie für jene bereitlagen. Jetzt nun ließ ich Doktor du Boulbon – wie es jedesmal geschieht, wenn das, was wir über einen Unbekannten hören, in uns die Vorstellung von einem großen Talent, einer Art von Genie zu wecken vermag – in den Tiefen meines Geistes des grenzenlosen Vertrauens teilhaftig werden, das uns derjenige einflößt, der mit tieferem Blick als andere die Wahrheit erkennt. Ich wußte zwar, daß er eher ein Spezialist für nervöse Erkrankungen war, dem Charcot 1 vor seinem Tod vorausgesagt hatte, er würde beherrschend auf dem Gebiet der Neurologie und der Psychiatrie. »Ja? Ich weiß nicht, möglich ist das ja«, meinte Françoise, die gerade zugegen war und zum ersten Mal die Namen Charcot und du Boulbon hörte. Das hinderte sie aber keineswegs zu sagen: »Das ist schon möglich.« Ihre »Das ist schon möglich«, ihre »Vielleicht«, ihre »Ich weiß nicht«waren in solchen Fällen höchst aufreizend. Man hatte Lust, ihr zu entgegnen: »Natürlich wissen Sie es nicht, da Sie ja gar nichts von der Sache verstehen, von der die Rede ist; wie können Sie überhaupt sagen, daß es möglich ist oder nicht, wo Sie doch gar nichts darüber wissen? Auf alle Fälle können Sie jetzt nicht behaupten, Sie wüßten nicht, was Charcot über du Boulbon usw. gesagt hat, Sie wissen es, weil Sie es von uns gehört haben, und Ihr ›Vielleicht‹ und Ihr ›Es ist möglich‹ sind hier nicht am Platze, denn das ist nun einmal wirklich so.«
    Da ich ungeachtet seiner mehr auf dem Gebiet der seelisch-nervösen Leiden liegenden Kompetenz wußte, daß du Boulbon ein großer Arzt, ein außergewöhnlicher Mensch mit einem erfindungsreichen, tiefgründigen Geist war, beschwor ich meine Mutter, ihn herbeizurufen; die Hoffnung, daß er durch eine richtige Einsicht in die Krankheit sie vielleicht heilen werde, überwand schließlich unsere Befürchtungen, meine Großmutter durch Beiziehen eines beratenden Arztes zu erschrecken. Was bei meiner Mutter endlich den Ausschlag gab, war, daß, unbewußt von Cottard ermutigt, meine Großmutter nicht mehr ausging und auch kaum noch das Bett verließ. Sie antwortete uns freilich mit dem Brief der Madame de Sévigné über Madame de La Fayette: »Es hieß, sie sei töricht, daß sie nicht mehr ausgehen wolle. Ich sagte zu den Leuten, die so übereilte Urteile fällten: Madame de La Fayette ist nicht töricht, weiter sagte ich nichts. Sie hat erst sterben müssen, um zu beweisen, daß sie recht damit hatte, das Haus nicht mehr zu verlassen.« 1 Der herbeigerufene du Boulbon gab zwar nicht Madame de Sévigné, die wir ihm nicht zitierten, wohl aber meiner Großmutter unrecht. Anstatt sie zu auskultieren, richtete er seine wunderbaren Blicke auf sie, in denen vielleicht die Illusion lag, die Patientin gründlich zu durchleuchten, oder der Wunsch, in ihr diese scheinbarspontane, aber bestimmt mechanisch gewordene Illusion zu

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