Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
sein Zorn ernst zu nehmen ist oder bald beschwichtigt sein wird. Cottard, der zu meiner Großmutter gerufen wurde und uns gleich in der ersten Minute, als wir ihm sagten, sie sei krank, durch die mit feinem Lächeln vorgebrachte Frage: »Krank? Es wird doch keine diplomatische Krankheit sein?« auf die Nerven gefallen war, Cottard versuchte es, um die Unruhe seiner Patientin in den Griff zu bekommen, mit einer Milchdiät. Aber die ewigen Milchsuppen taten ihre Wirkung nicht, weil meine Großmutter sehr viel Salz hineingab, dessen Unzuträglichkeit zu jener Zeit unbekannt war (weil Widal seine Entdeckungen noch nicht gemacht hatte 1 ). Denn da die Medizin ein Kompendium aufeinanderfolgender und einander widersprechender Irrtümer der Ärzte ist, hat man, wenn man die vorzüglichsten unter ihnen an sein Krankenbett ruft, beste Aussicht, eine Wahrheit um Hilfe anzugehen, die wenige Jahre darauf als falsch erkannt sein wird. An die Medizin zu glauben wäre also der größte Wahnwitz, wofern es nicht ein noch größerer wäre, nicht an sie zu glauben, denn aus dieser Häufung von Irrtümern sind auf lange Sicht ein paar Wahrheiten hervorgegangen. Cottard hatteempfohlen, die Temperatur meiner Großmutter zu messen. Ein Thermometer wurde geholt. Fast in ganzer Höhe war die Röhre frei von Quecksilber. Mit Mühe nur erkannte man den silbernen Salamander, geduckt auf dem Grund seines Wännleins. Er schien vollkommen tot. Das Glasrohr wurde meiner Großmutter in den Mund geschoben. Wir brauchten es nicht lange dort zu belassen; das kleine Hexenwesen benötigte nicht viel Zeit für sein Horoskop. Wir fanden es unbeweglich in halber Höhe seines Turmes vor, von wo es sich nicht wegrührte und uns mit größter Genauigkeit die Ziffer bezeichnete, die wir von ihm hatten wissen wollen und die alle Überlegungen, die meine Großmutter in ihrer Seele über sich hätte anstellen können, ihr nicht geliefert hätten: 38,3°. Zum ersten Mal empfanden wir eine gewisse Unruhe. Wir schüttelten das Thermometer kräftig, um das schicksalsschwere Zeichen wieder auszulöschen, als könnten wir das Fieber selbst gleichzeitig mit der angezeigten Temperatur zum Schwinden bringen. Ach! Es war nur zu klar, daß die kleine vernunftlose Sibylle diese Antwort nicht aufs Geratewohl gegeben hatte, denn am folgenden Tag war das Thermometer kaum wieder meiner Großmutter zwischen die Lippen geschoben worden, als fast auf der Stelle, in einem einzigen Satz, mit imponierender Sicherheit und Intuition für eine uns unsichtbare Tatsache, die kleine Prophetin auch schon am gleichen Punkt stehengeblieben war und, in unerbittlicher Unbeweglichkeit, mit ihrem glitzernden Stab uns wiederum die Zahl 38,3° zeigte. Sie sagte nichts weiter, blieb taub gegen alles Wünschen, Wollen, Bitten; dies schien ihr letztes, warnendes, drohendes Wort zu sein. Um nun zu versuchen, sie zu einer modifizierten Antwort zu zwingen, wandten wir uns an ein anderes Geschöpf des gleichen Reiches, das aber noch mächtiger ist, da es sich nicht damit begnügt, den Körper zu befragen, sondern ihm auch zu befehlenvermag: ein Fiebermittel der gleichen Klasse wie das Aspirin, das man damals noch nicht verwendete. 1 Wir hatten das Thermometer nicht unter 37,5° gesenkt, weil wir hofften, auf diese Weise brauche es gar nicht erst zu steigen. Wir ließen meine Großmutter das Fiebermittel einnehmen und führten das Thermometer darauf von neuem ein. Wie ein unerbittlicher Wächter, dem man die durch Protektion erlangte Genehmigung einer vorgesetzten Stelle vorweist und der mit der Feststellung, daß sie in Ordnung ist, meint: »Gut, da kann ich nichts sagen, wenn es so ist, treten Sie nur ein«, rührte die wachsame Pförtnerin sich diesmal nicht. Dafür aber schien sie uns mürrisch zu bedeuten: »Was soll Euch das nützen? Ihr kennt ja das Chinin, es gibt mir den Befehl, mich nicht von der Stelle zu rühren, einmal, zehnmal, zwanzigmal. Dann aber wird es der Sache müde, ich kenne es, Ihr könnt mir glauben. Das hält nicht ewig an, und danach seid ihr keinen Schritt weiter.« Nun entdeckte meine Großmutter in ihrem Inneren die Gegenwart eines Geschöpfs, das den menschlichen Leib besser kannte, als meine Großmutter es tat, die Gegenwart eines Zeitgenossen verschwundener Geschlechter, eines Ureinwohners aus einem Zeitalter vor der Erschaffung des denkenden Menschen; sie verspürte, wie dieser jahrtausendealte Verbündete, ein wenig derb sogar, ihren Kopf, ihr Herz, ihren Ellbogen
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