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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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erzeugen, oder in der Absicht, sie nicht merken zu lassen, daß er an ganz andere Dinge dachte, oder um Einfluß auf sie zu gewinnen – und begann, von Bergotte zu sprechen.
    »Ja, das will ich meinen, Madame, daß er Bewunderung verdient; Sie lieben ihn wirklich mit gutem Grund! Und welches seiner Bücher ziehen Sie denn vor? Ach! Wirklich! Mein Gott, es mag tatsächlich vielleicht sein bestes sein. Auf alle Fälle ist es sein bestkomponierter Roman. Claire ist ein bezauberndes Wesen. Und welche der Männergestalten dort sagt Ihnen am meisten zu?«
    Ich glaubte erst, er bringe sie in dieser Weise auf Literatur zu sprechen, weil die Medizin ihn persönlich langweile, vielleicht auch, um die Weite seines Geistes darzutun oder sogar in therapeutischer Absicht, nämlich um der Kranken Vertrauen einzuflößen, ihr zu zeigen, daß er nicht beunruhigt sei, um sie von ihrem Zustand irgendwie abzulenken. Später allerdings habe ich begriffen, daß er, der ja bemerkenswert vor allem in der Behandlung von Geisteskranken und durch seine Arbeiten über das menschliche Gehirn war, sich durch seine Fragen eine Meinung darüber hatte bilden wollen, ob das Gedächtnis meiner Großmutter noch intakt sei. Fast widerwillig befragte er sie darauf mit düster starrendem Blick über ihre Lebensweise. Dann mit einem Mal, als erkenne er die Wahrheit und sei entschlossen, um jeden Preis bis zu ihr vorzudringen, sah er nach einer vorausgehenden Gebärde, mit der er nur mühevoll den Ansturm seiner letzten Hemmungen und aller Einwände, die wir möglicherweise machen würden, beiseite zu schieben und sie dabei von sich abzuschütteln schien, meine Großmutter tiefsinnig an, nunmehr unbehindert und als spüre er endlich festen Boden unter den Füßen, und sagte, die Worte in einem sanften, einnehmenden Tonakzentuierend, wobei der wechselnde Stimmfall ganz vom Geist bestimmt war (seine Stimme übrigens blieb während des ganzen Besuches so, wie sie in Natur war, nämlich sanft, und unter seinen buschigen Augenbrauen erfüllte Güte seinen ironischen Blick):
    »Es wird Ihnen gutgehen, Madame, an dem nahen oder fernen Tag – es hängt nur von Ihnen ab, ob es schon heute sein wird –, an dem Sie begreifen, daß Ihnen nichts fehlt, und an dem Sie die gewohnte Lebensweise wieder aufnehmen. Sie haben mir gesagt, Sie essen nichts und gehen nicht aus dem Hause?«
    »Aber, Monsieur, ich habe ja etwas Fieber.«
    Er berührte ihre Hand.
    »In diesem Augenblick jedenfalls nicht. Und was ist das schon für eine Entschuldigung! Wissen Sie nicht, daß wir Tuberkulosekranke, die bis 39° haben, im Freien lassen und mit Überernährung behandeln?«
    »Aber ich habe auch etwas zu viel Eiweiß.«
    »Das sollten Sie gar nicht wissen. Sie haben das, was ich unter dem Namen ›Mentalalbumin‹ beschrieben habe. Wir haben alle einmal im Laufe einer Indisposition eine kleine Eiweißkrise gehabt, die unser Arzt auf der Stelle zum chronischen Zustand erhob, indem er uns davon Mitteilung machte. Auf ein Leiden, das die Ärzte mit Medikamenten heilen (jedenfalls soll so etwas schon vorgekommen sein), erzeugen sie zehn neue bei ganz gesunden Leuten, indem sie ihnen jenen pathogenen Wirkstoff einimpfen, der tausendmal virulenter als alle Mikroben ist, nämlich die Idee der Krankheit. Eine solche Vorstellung hat Macht über alle Temperamente, wirkt aber besonders stark auf nervöse Naturen ein. Wenn man ihnen sagt, ein geschlossenes Fenster in ihrem Rücken sei geöffnet, fangen sie schon zu niesen an; wenn man sie glauben macht, es sei Magnesia in ihrer Suppe, bekommen sie Koliken, und wenn man ihnen suggeriert, ihr Kaffee sei stärkerals gewöhnlich, tun sie nachts kein Auge zu. Wollen Sie mir glauben, Madame, daß ich nur Ihre Augen zu sehen und zu hören brauche, wie Sie sich ausdrücken, ja sogar nur Ihre Frau Tochter und Ihren Enkel, der Ihnen so ähnlich sieht, anzusehen nötig habe, um zu wissen, mit wem ich es zu tun habe?«
    »Deine Großmama könnte sich vielleicht, wenn der Doktor es erlaubt, in einem ruhigen Parkweg der Champs-Élysées in die Nähe des Lorbeerbosketts setzen, vor dem du früher gespielt hast«, sagte meine Mutter zu mir; sie wollte damit indirekt du Boulbon befragen, und ihre Stimme bekam dadurch etwas Schüchternes und Unterwürfiges, das sie nicht gehabt hätte, wenn sie nur mich angesprochen hätte. Der Doktor wandte sich zu meiner Großmutter, und da er nicht weniger belesen als gelehrt war, äußerte er sich folgendermaßen:
    »Gehen Sie

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