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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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ihn mir zu oder führen ein günstiger Wind und Fortuna Sie beide unter mein Dach?« Obwohl er keine höhere Schule besucht hatte, beachtete Jupien die Syntax in ebenso natürlicher Weise, wie Monsieur de Guermantes, trotz mannigfaltiger Bemühungen, dagegen verstieß. Nachdem Françoise gegangen und der Mantel ausgebessert war, mußte meine Großmutter sich wohl oder übel für den Ausgang rüsten. Sie hatte eigensinnig abgelehnt, daß Mama bei ihr bliebe, und brauchte nun ganz allein für ihre Toilette unendlich lange Zeit; jetzt, da ich wußte, daß sie bei guter Gesundheit war, fand ich sie – in jener seltsamen Gleichgültigkeit, die wir gegen unsere Angehörigen hegen, solange sie am Leben sind, und die bewirkt, daß wir an sie erst zu allerletzt denken – sehr egoistisch, weil sie so lange machte auf die Gefahr hin, es könne für mich zu spät werden, wußte sie doch, daß ich eine Verabredung mitFreunden hatte und in Ville-d’Avray zu Abend essen wollte. Aus Ungeduld ging ich schließlich schon die Treppe hinunter, nachdem es zweimal geheißen hatte, sie werde gleich fertig sein. Endlich kam sie nach (ohne mich wegen ihrer Verspätung um Entschuldigung zu bitten, wie sie es sonst in solchen Fällen tat, rot und zerstreut wie eine Person, die eilig ist und die Hälfte ihrer Sachen vergessen hat), als ich schon an der halboffenen Glastür angekommen war, durch die, ohne die eisigen Innenwände des Hauses im geringsten zu erwärmen, die fließende, stimmenerfüllte, laue Außenluft wie aus einem Behälter einströmte.
    »Mein Gott, wo du dich mit Freunden triffst, hätte ich wohl doch einen anderen Mantel anziehen sollen. Ich glaube, ich sehe in diesem etwas ärmlich aus.«
    Es fiel mir auf, wie rot sie im Gesicht war, und schloß daraus, daß sie sich sehr beeilt haben mußte, nachdem sie sich verspätet hatte. Als wir die Droschke am Eingang der Rue Gabriel, in den Champs-Élysées, verlassen hatten, sah ich, daß meine Großmutter sich wortlos abgewandt hatte und auf den kleinen alten Pavillon mit dem grünen Gitterwerk zuging, in dem ich eines Tages auf Françoise gewartet hatte. Derselbe Parkwächter wie damals war auch jetzt wieder bei der »Marquise«, als ich, meiner Großmutter folgend, die, da ihr offenbar übel geworden war, ihre Hand vor den Mund hielt, die Stufen des kleinen ländlichen, inmitten der Gartenanlagen erbauten Theaters emporstieg. Am Eingang saß immer noch, wie in jenen Jahrmarktsschaubuden, wo der Clown, schon vollkommen bereit für seinen Auftritt und frisch bemehlt, selbst bei der Tür das Eintrittsgeld einstreicht, die »Marquise« an der Kasse, mit ihrem breiten, unregelmäßigen, dick weißgeschminkten Gesicht, mit der kleinen Mütze aus roten Blumen und schwarzer Spitze, die auf ihrer rötlichen Perücke thronte. Ich glaube aber nicht,daß sie mich wiedererkannte. Der Parkwächter hatte ein Weilchen auf die Beaufsichtigung der Grünanlagen, auf deren Ton seine Uniform abgestimmt war, verzichtet und saß plaudernd neben ihr.
    »Nun«, sagte er, »Sie sind immer noch hier. Sie denken wohl nicht daran, sich zurückzuziehen.«
    »Und warum sollte ich mich denn zurückziehen, Monsieur? Wollen Sie mir sagen, wo ich es besser hätte als hier, größere Annehmlichkeiten und alles so bequem? Und immer ein Kommen und Gehen, immer Abwechslung; es ist das, was ich mein kleines Paris nenne; meine Kundschaft hält mich über alles, was vorgeht, auf dem laufenden. Sehen Sie, da gibt es einen, der vor noch nicht fünf Minuten hier war, ein Beamter in einer Position ganz oben. Nun gut, Monsieur!« rief sie mit einem Feuer, als sei sie bereit, diese Behauptung mit Gewalt zu verfechten, wenn etwa der Vertreter der Obrigkeit Miene gemacht hätte, ihre Richtigkeit zu bestreiten, »seit acht Jahren, verstehen Sie mich recht, alle Tage, die Gott werden läßt, Punkt Schlag drei Uhr ist er hier, immer höflich, niemals ein lautes Wort, nie macht er etwas schmutzig; er bleibt eine halbe Stunde hier, um seine Zeitungen zu lesen und seine kleinen Geschäfte zu verrichten. Einen einzigen Tag ist er nicht gekommen. Im Augenblick habe ich es nicht einmal gemerkt, aber am Abend sagte ich plötzlich zu mir: Sieh da, dieser Herr ist nicht erschienen, vielleicht ist er gestorben. Es ging mir wirklich nahe, ich schließe die Leute ins Herz, wenn sie nett sind. Ich war daher sehr froh, als ich ihn am nächsten Tage wiedersah, und habe zu ihm gesagt: ›Monsieur, es ist Ihnen doch gestern nichts passiert?‹ Da

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