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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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sagt er mir wirklich genau so, nein, ihm sei selbst nichts passiert, aber seine Frau sei gestorben. Und das habe ihn derart durcheinandergebracht, daß er nicht habe kommen können. Er sah wahrhaftig traurig aus – Sie verstehen, Leute, die fünfundzwanzigJahre verheiratet waren! –, aber doch auch richtig froh, daß er wieder hier war. Man spürte, wie sehr er in seinen kleinen Gewohnheiten gestört worden war. Ich habe versucht, ihn etwas aufzurichten, und zu ihm gesagt: ›Man darf sich nicht gehenlassen. Kommen Sie nur wie bisher, bei Ihrem Kummer brauchen Sie um so mehr eine kleine Abwechslung.‹«
    Die »Marquise« war jetzt in einen sanfteren Ton verfallen, denn sie hatte bemerkt, daß der Hüter der Boskette und Rasenflächen ihr gutmütig zuhörte, ohne an Widerspruch zu denken, denn er ließ seinen Säbel, der eher einem Gartengerät oder Attribut der Parkpflege glich, friedlich in der Scheide.
    »Und dann«, sagte sie, »suche ich mir meine Kunden auch aus, ich empfange nicht jeden beliebigen hier in meinen Salons, wie ich immer sage. Sieht es nicht aus wie in einem Salon mit meinen Blumen? Ich habe sehr liebenswürdige Kunden, immer bringt mir der eine oder der andere ein Zweiglein schönen Flieder, Jasmin oder sogar Rosen mit, meine Lieblingsblumen.«
    Ich errötete bei dem Gedanken, diese Dame werde vielleicht keine gute Meinung von uns haben, da wir ihr niemals Flieder oder schöne Rosen mitbrachten, und um mich ihrem ungünstigen Urteil körperlich zu entziehen – oder doch wenigstens nur in contumaciam von ihr gerichtet zu werden –, strebte ich dem Ausgang zu. Aber nicht immer sind es im Leben die Leute, die schöne Rosen bringen, zu denen man am liebenswürdigsten ist: die »Marquise«, die annahm, ich langweile mich, sprach mich an:
    »Soll ich Ihnen nicht eine kleine Kabine aufschließen?«
    Und als ich ablehnte, setzte sie lächelnd hinzu:
    »Nein, Sie möchten nicht? Das Angebot kam von Herzen, aber ich weiß, daß das Bedürfnisse sind, die man noch nicht zu haben braucht, weil man nicht dafür zahlt.«
    In diesem Augenblick kam sehr eilig eine schlechtgekleidete Frau herein, die sie jedenfalls zu verspüren schien. Doch sie gehörte nicht zur Gesellschaft der »Marquise«, denn mit der Rohheit eines Snobs erklärte diese schroff:
    »Es ist nichts frei, Madame.«
    »Wird es lange dauern?« fragte die arme Frau mit rotem Gesicht unter ihrem gelben Blumenhut.
    »Oh, Madame, ich rate Ihnen, anderswo hinzugehen, Sie sehen ja, diese zwei Herren warten schon«, sagte sie, indem sie auf mich und den Parkwächter wies, »und ich habe nur ein Kabinett, die anderen werden repariert … Bei solchen Leuten zahlt es sich nicht aus«, sagte die »Marquise«. »So etwas gehört nicht hierher, so etwas kennt keine Reinlichkeit, keine Rücksichtnahme, und es wäre ja noch schöner, wenn ich nachher eine Stunde bloß saubermachen würde für Madame. Den zwei Sous, die sie zahlt, traure ich nicht nach.«
    Endlich kam meine Großmutter wieder heraus, und da ich annahm, sie werde nicht durch ein Trinkgeld ihre Unbescheidenheit, so lange zu bleiben, wieder gutmachen, zog ich mich zurück, um an der Verachtung nicht teilzuhaben, mit der die »Marquise« sie sicherlich strafen würde; ich machte ein paar Schritte in einen Parkweg hinein, aber ganz langsam, damit meine Großmutter mich leicht einholen und ihren Weg mit mir fortsetzen könne. Das geschah auch bald darauf. Ich glaubte, sie werde zu mir sagen: »Ich habe dich lange warten lassen, ich hoffe, du verpaßt Deine Freunde nicht«, doch sie äußerte kein Wort, so daß ich etwas enttäuscht nicht zu reden beginnen wollte; als ich endlich nach ihr hinsah, bemerkte ich, daß sie zwar neben mir ging, aber den Kopf von mir wegwandte. Ich fürchtete, es sei ihr immer noch übel. Ich sah genauer hin und war erschrocken über ihren ruckartigen Gang. Ihr Hut saß schief, ihrMantel war beschmutzt, sie sah unordentlich und mißvergnügt aus und hatte das rote, gequälte Gesicht von jemandem, der von einem Wagen umgefahren oder aus dem Straßengraben gezogen worden ist.
    »Ich hatte Angst, Großmama, dir sei übel geworden; fühlst du dich jetzt besser?« fragte ich.
    Bestimmt meinte sie, es sei unmöglich, mir keine Antwort zu geben, ohne mich zu beunruhigen.
    »Ich habe die ganze Unterhaltung zwischen der ›Marquise‹ und dem Wächter angehört«, sagte sie zu mir. »Das war doch im höchsten Grade Guermantes und kleiner Kreis der Verdurins, Gott! In welch

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