Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
Riß und der andere hat kein Knopfloch für die Orden. Ich bitte Sie, tun Sie mir den Gefallen und rühren Sie die Knöpfe im Fahrstuhl nicht an, Sie verstehen nicht damit umzugehen, man muß da vorsichtig sein. Dieses Knopfloch wird mich auch noch verspäten. Also gut, aus Freundschaft für die Ihrigen werde ich Ihre Großmutter ansehen, wenn sie jetzt sofort kommt. Aber ich sage Ihnen im voraus, daß ich nur eine knappe Viertelstunde für sie erübrigen kann.«
Ich hatte mich gleich wieder auf den Rückweg gemacht, ohne auch nur den Fahrstuhl zu verlassen, den Professor E. selbst nach unten in Gang gesetzt hatte, wobei er mir noch einen mißtrauischen Blick nachsandte.
Wir sagen wohl, die Stunde des Todes sei ungewiß, doch wenn wir das sagen, stellen wir uns diese Stunde in weiter, vager Ferne vor, wir denken nicht daran, daß sie irgendeine Beziehung zu dem bereits begonnenen Tag haben und daß der Tod – oder sein erster partieller Zugriff, nach dem er uns nicht mehr loslassen wird – noch am gleichen Nachmittag erfolgen könnte, der uns so gar nicht ungewiß scheint, an diesem Nachmittag, für den der Gebrauch der Stunden bereits im voraus festgelegt ist. Man hält an seinem Spaziergang fest, um pro Monat die erforderliche Menge an frischer Luft zusammenzubekommen, man hat sich bei der Wahl des Mantels verweilt, den man mitnehmen will, oder des Kutschers, der geholt werden soll, man sitzt im Wagen, der Tag liegt ganz vor einem und erscheint nur deshalb kurz, weil man rechtzeitig wieder zu Hause sein möchte, um eine Freundin zu empfangen; man wünschte, es wäre morgen ebenso schön, und man ahnt nicht, daß der Tod, der auf einer anderen Ebene in uns wandelte, gerade diesen Tag für seinen Auftritt gewählt hat: in ein paar Minuten, ungefähr dann, wenn der Wagen die Champs-Élysées erreicht haben wird. Vielleicht werden diejenigen, die üblicherweise vom Grauen vor der völligen Andersartigkeit des Todes heimgesucht werden, etwas Beruhigendes in dieser Art von Tod sehen – dieser Form des ersten Kontakts mit dem Tode –, weil er dabei ein bekanntes, vertrautes, alltägliches Aussehen bekommt. Ein gutes Mittagsmahl ist ihm vorausgegangen und eine gleiche Ausfahrt, wie Gesunde sie unternehmen. Eine Rückkehr im offenen Wagen legt sich über seine erste Attacke; wie krank auch meine Großmutter war, schließlich hättenmehrere Personen sagen können, daß sie sie um sechs Uhr, als wir von den Champs-Élysées zurückkamen, gegrüßt hätten und daß sie bei herrlichem Wetter im offenen Wagen vorübergefahren sei. Legrandin, der auf die Place de la Concorde zuging, zog vor uns den Hut, während er mit verwunderter Miene stehenblieb. Ich, der ich mich noch nicht vom Leben gelöst hatte, fragte meine Großmutter, ob sie den Gruß erwidert habe, und erinnerte sie daran, wie empfindlich er sei. Meine Großmutter, die mich sicher ziemlich töricht fand, hob die Hand, als wolle sie sagen: »Was macht das schon aus? Das ist doch völlig bedeutungslos.«
Ja, man hätte berichten können, daß soeben meine Großmutter, während ich nach einer Droschke suchte, in der Avenue Gabriel auf einer Bank gesessen habe und kurz darauf im offenen Wagen vorbeigefahren sei. Doch wäre das wirklich wahr gewesen? Die Bank braucht, um ihren Platz in der Avenue einzunehmen – wenn sie auch gewissen Gesetzen des Gleichgewichts untersteht –, keine Energie. Doch damit ein lebendes Wesen sich aufrecht hält, selbst auf einer Bank oder in einem Wagen, bedarf es einer Kraftanstrengung, die wir gewöhnlich nicht stärker wahrnehmen als (weil er nach allen Richtungen wirkt) den atmosphärischen Druck. Wenn wir in uns ein Vakuum schaffen und dann den Druck der Luft ertragen müßten, würden wir vielleicht in dem Augenblick vor unserem Zusammenbruch gerade noch das furchtbare Gewicht empfinden, das hinfort durch nichts mehr ausgeglichen wäre. Ebenso erfordert, wenn die Abgründe der Krankheit und des Todes sich in uns öffnen und wir dem Tumult, mit dem die Welt und unser eigener Körper über uns herfallen, nichts mehr entgegenzusetzen haben, das bloße Ertragen des Gewichts unserer eigenen Muskeln oder des zerrüttenden, bis ins Mark gehenden Erschauerns, ja auch nurdas unbewegliche Verharren in dem, was wir gemeinhin als die passive Haltung einer Sache ansehen, wenn man nur dabei einen normal erhobenen Kopf und ruhigen Blick bewahren will, vitale Energie und wird zum Gegenstand eines erschöpfenden Kampfes.
Und Legrandin hatte uns
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