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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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haben, was Talleyrand mit einem tiefsinnigen Wort als einen ›eingebildeten Gesunden‹ bezeichnet hat. Sehen Sie, die Heilung hat schon eingesetzt, Sie haben mich in ganz gerader Haltung aufrecht sitzend angehört, sich nicht einmal angelehnt, Ihr Blick ist klar, Ihr Aussehen gut, und das eine halbe Stunde lang schon, Sie haben es gar nicht gemerkt, Madame, ich habe die Ehre!«
    Als ich Doktor du Boulbon hinausbegleitet hatte und nun in das Zimmer zurückkehrte, in dem meine Mutter sich allein befand, war der Kummer, der mich seit Wochen bedrückte, verflogen; ich fühlte, daß meine Mutter jetzt ihrer Freude freien Lauf lassen und Zeuge der meinen sein würde, ich verspürte jene Unmöglichkeit, das Warten auf den nahen Augenblick zu ertragen, in dem ein Mensch an unserer Seite tief bewegt sein wird, ein Gefühl, das auf anderer Ebene ein wenig der Furcht gleicht, die man bei der Gewißheit empfindet, daß jemand durch eine im Augenblick noch geschlossene Tür eintreten wird, um einen zu erschrecken; ich wollte Mama etwas sagen, doch meine Stimme versagte, und ich brach in Tränen aus; eine ganze Weile stand ich dann mit dem Kopf gegen ihre Schulter gelehnt und umgab meinen Schmerz, da ich wußte, daß er aus meinem Leben fort war, mit meinen Tränen, kostete ihn, nahm ihn hin, ja liebte ihn, so wie wir gern in tugendhaften Vorsätzen schwelgen, die die Umstände uns nicht auszuführen gestatten. Françoise erregte meinen Zorn, weil sie an unserer Freude keinen Anteil nahm. Sie war tief bewegt, weil es zu einer furchtbaren Szene zwischen dem Lakai der Guermantes unddem spionierenden Concierge gekommen war. Die Herzogin in ihrer Güte hatte einschreiten, einen Scheinfrieden stiften und dem Lakai verzeihen müssen. Denn sie war gut, und die Stelle bei ihr wäre ideal gewesen, hätte sie nicht auf »Tratsch« gehört.
    Seit ein paar Tagen schon hatte sich herumgesprochen, daß meine Großmutter krank war, und man hatte begonnen, sich nach ihrem Befinden zu erkundigen. Saint-Loup hatte mir geschrieben: »Ich will nicht diese Stunden benutzen, wo es Deiner lieben Großmutter nicht gutgeht, um Dir Vorwürfe (eigentlich weit mehr als das) zu machen, die zu ihr in keiner Beziehung stehen. Aber ich müßte lügen, wenn ich darüber hinwegginge und Dir sagte, ich könne jemals Dein hinterhältiges Verhalten vergessen oder Dir Deine Schurkerei und Deinen Verrat verzeihen.« Doch Freunde von mir, die meine Großmutter nicht für sehr krank hielten oder wohl nicht einmal wußten, daß sie es überhaupt war, hatten mich gebeten, sie am folgenden Tag in den Champs-Élysées abzuholen, um von dort aus gemeinsam mit ihnen einen Besuch zu machen und schließlich an einem Diner auf dem Lande teilzunehmen, von dem ich mir gute Unterhaltung versprach. Ich hatte keinen Grund mehr, auf diese beiden Vergnügen zu verzichten. Als man meiner Großmutter gesagt hatte, sie müsse jetzt in Befolgung der Vorschriften des Doktors du Boulbon viel spazierengehen, war ja, wie man gesehen hat, sofort von den Champs-Élysées die Rede gewesen. Es wäre ganz einfach für mich, sie dahin zu begleiten, dann, während sie dort lesend saß, mich mit meinen Freunden über den Treffpunkt zu verständigen und noch zur Zeit, wenn ich mich beeilte, mit ihnen den Zug nach Ville d’Avray zu erreichen. Zur festgesetzten Stunde aber wollte meine Großmutter nicht ausgehen, da sie zu müde war. Doch eingedenk der Lehren von du Boulbon brachte meine Mutter die Energie auf,böse zu werden und sie zur Folgsamkeit zu zwingen. Sie weinte fast bei dem Gedanken, meine Großmutter werde in ihre nervöse Schwäche zurückfallen und sich nicht wieder daraus aufraffen. Nie hatte so geeignetes schönes, warmes Wetter für ihren Ausgang geherrscht. Die Sonne wob bei ihrem langsamen Vorrücken hier und da unbeständige Schleier in die durchbrochene Festigkeit des Balkons und versah die Steinquader mit einem lauen Überzug, einem verwischten, goldenen Lichtkreis. Da Françoise keine Zeit mehr gehabt hatte, ihrer Tochter »eine Rohrpost« zu schicken, verließ sie uns gleich nach dem Mittagessen. Es war schon viel von ihr, daß sie vorher noch zu Jupien hineinging, um an einem leichten Mantel, den meine Großmutter zum Ausgehen anziehen wollte, ein paar Stiche nachnähen zu lassen. Da ich in diesem Augenblick von meinem Morgenspaziergang zurückkehrte, ging ich mit ihr zu dem Westenmacher hinein. »Führt Ihr junger Herr Sie zu mir«, sagte Jupien zu Françoise, »führen Sie

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